Auserlesenes - Blog für Buchrezensionen

Süchtig nach Büchern, Kaffee und Schokolade 

 

 

Zurück in die Stadt am Meer

Vordergründig führt sie ein erfolgreiches, geradezu beneidenswertes Leben. Doch hinter der Fassade der hübschen, kinderlosen Musikmanagerin, Ende 30, sieht es anders aus: Sie ist Single und nicht glücklich. Und von ihrer Familie ist ihr nur ihre Mutter geblieben. Ein plötzlicher Anruf bringt ihren Alltag durcheinander und treibt sie zurück in eine Stadt am Meer, wo sie zuletzt in einem Sommer vor 20 Jahren eine der Furien war…

 

„Furye“ ist ein Roman von Kat Eryn Rubik.

 

Der Roman wird eingeleitet mit einem kurzen Prolog und endet mit einem Epilog. Dazwischen liegen neun Kapitel, die in der Ich-Perspektive einer jungen Frau erzählt werden, die anonym bleiben will. Zudem gibt es eine weitere Ebene: die Einträge aus einem Notizbuch, aufgeschrieben von der Protagonistin, als sie 17 Jahre alt war und sich Alec nannte.

 

Der Schreibstil ist einzigartig und besitzt einen Wiedererkennungswert. Die Sprache ist manchmal etwas derb bis vulgär, atmosphärisch stark und bisweilen von einer poetischen Note durchzogen.

 

Für mich ist die Protagonistin keine typische Sympathieträgerin. An ein paar Stellen habe ich mich an ihrem Verhalten gestört. Dennoch wirken sie und die übrigen Figuren größtenteils authentisch.

 

Die Geschichte dreht sich um die Jugend und das Erwachsen werden. Inhaltlich ist der Roman dabei jedoch durchaus keine leichte Kost. Es geht es um Erinnerungen, Schmerz, Trauer und Verlust, aber auch um Gewalt und andere unschöne Erfahrungen.

 

Auf den fast 350 Seiten ist die Geschichte von einer subtilen Spannung geprägt. Schon nach den ersten Seiten entwickelt die Geschichte einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte.

 

Das Covermotiv sticht hervor und macht neugierig. Der außergewöhnliche Titel mit der besonderen Schreibweise erregt Aufmerksamkeit und passt sehr gut.

 

Mein Fazit:

„Furye“ von Kat Eryn Rubik ist ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlicher Roman.

Neue Hoffnung am Meer

Strandgut - Benjamin Myers

Earlon Bronco (70), genannt Bucky, hat seit dem Tod seiner Frau Maybellene vor knapp einem Jahr seine Lebensfreude verloren. In Chicago erlebt der frühere Soulsänger einen traurigen Alltag. Da erreicht ihn eine unerwartete Einladung zu einem Musikfestival im englischen Scarborough. Bucky, der noch nie vorher am Meer war, lässt sich darauf ein. An der britischen Küste trifft er Dinah, eine Mittfünfzigerin.

 

„Strandgut“ ist ein Roman von Benjamin Myers.

 

Der Roman gliedert sich in drei Teile, die sich aus zahlreichen Abschnitten zusammensetzen. Eingeleitet wird er von einem kurzen Prolog. Erzählt wird auf zwei zeitlichen Ebenen.

Der Schreibstil ist atmosphärisch und geprägt von schönen Sprachbildern. Anschauliche Beschreibungen und lebensnahe Dialoge wechseln sich ab.

 

Die Charaktere wirken nahbar, authentisch und sympathisch. Insbesondere Bucky und Dinah, zwei interessante Figuren, stehen im Mittelpunkt des Romans.

 

In inhaltlicher Hinsicht beschäftigt sich die Geschichte mit großen Emotionen. Thematisch geht es um Freundschaft, Neuanfänge, Erinnerungen und Verluste. Eine wichtige Rolle spielt zudem die Musik. Allerdings behandelt der Roman auch Alkohol- und Medikamentenmissbrauch.

 

Auf den fast 300 Seiten bietet die Geschichte ein wenig Dramatik und viele berührende Passagen. Die Handlung ist größtenteils schlüssig und unterhaltsam, wenn auch ohne größere Überraschungen.

 

Der englischsprachige Originaltitel („Rare singles“) gefällt mir aufgrund seiner Zweideutigkeit sehr. Auch die metaphorische Formulierung der deutschen Ausgabe passt für mich gut, vor allem in Verbindung mit dem stimmungsvollen, hübschen Covermotiv.

 

Mein Fazit:

Mit „Strandgut“ ist Benjamin Myers erneut ein empfehlenswerter Roman gelungen, den ich gerne gelesen habe.

Der Griff nach den Sternen

Stars - Katja Kullmann

„Freiheit für Mittmann“, so steht es mit Kreide auf den Bürgersteig geschrieben. Carla Mittmann entdeckt den Schriftzug, nachdem ein Stein durch ihr Fenster geflogen war. Was hat das alles zu bedeuten? Nach ihrer erzwungenen Exmatrikulation hat die alleinstehende Philosophin zwar keinen Doktortitel, aber nun zwei Jobs. Sie arbeitet nicht nur als Aushilfskraft für einen Möbelhersteller, sondern bietet als „Cosmic Charly" übers Internet auch individuelle Horoskope an. Doch welchen Einfluss haben die Sterne wirklich? Und was sieht das Schicksal noch für Carla vor?

 

„Stars“ ist das Romandebüt von Katja Kullmann.

 

Der Roman gliedert sich in drei Teile, die aus mehreren unnummerierten Abschnitten bestehen. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Carla.

 

Mit satirischem Unterton, aber ungekünstelt und anschaulich ist die Sprache des Romans. Obwohl mich die humoristischen Spitzen nicht immer erreichen konnten, hat mich der Schreibstil dennoch überzeugt.

 

Protagonistin Carla ist nicht die typische, sympathische Heldin. Ihr vor allem anfangs phlegmatisches Wesen und ihr unorthodoxes, nicht immer rationales Verhalten lassen sie über weite Teile der Geschichte seltsam und ungewöhnlich erscheinen. Schwer habe ich mich auch mit einigen Nebenfiguren getan, die deutlich überzeichnet wirken.

 

Ein thematischer Schwerpunkt liegt auf der Astrologie. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die Sterne tatsächlich unser Schicksal beeinflussen oder ob die Astrologie bloße Scharlantanerie ist. Hintergründig beleuchtet der Roman nicht nur die Sternendeuterei an sich, sondern zeigt die zugrundeliegenden Träume, Ängste und Sehnsüchte der Fans der Astrologie auf. Dies regt zum Nachdenken an und schafft Anknüpfungspunkte.

 

Auf den rund 250 Seiten ist die Geschichte trotz des eher gemäßigten Erzähltempos unterhaltsam und voller Überraschungen. Leider habe ich nicht alle Entwicklungen als glaubwürdig empfunden. Zudem bleiben für meinen Geschmack am Ende noch zu viele Fragen offen.

 

Als sehr gelungen betrachte ich die Covergestaltung des Romans. Der mehrdeutige Titel ist ebenfalls eine vortreffliche Wahl.

 

Mein Fazit:

„Stars“ ist eine unterhaltsame Lektüre mit einer interessanten Fragestellung. Leider hat mich der Roman nicht in allen Punkten begeistern können.

Ein Kind um jeden Preis?

Hello Baby - Kim Eui-kyung

Sie sind sechs Frauen in Südkorea und sie eint ihr bisher unerfüllter Kinderwunsch: Munjeong Kang (44, Journalistin), Juin Han (38), Jeonghyo Kim (46), Sora Yun (37, Tierärztin), Hyekyoung Lee (44, Anwältin) und Unha Jang (37, Polizistin). In einer Fruchtbarkeitsklinik in Seoul lernen sie sich kennen und schreiben fortan in der Gruppe „Hello Baby“ miteinander. Erst taucht die Älteste von ihnen plötzlich in der Gruppe ein Jahr ab, dann mit einem Kind wieder auf. Kann das mit rechten Dingen vor sich gehen?

 

„Hello Baby“ ist ein Roman von Kim Eui-kyung.

 

Die Struktur ist sinnvoll durchdacht und funktioniert prima: Der Roman gliedert sich in zwei Teile, die wiederum aus insgesamt 14 Kapiteln bestehen. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven aus der Sicht der sechs Frauen, die aus sprachlicher Sicht leider wenig Varianz aufweisen. Ansonsten ist der Text anschaulich und unauffällig.

 

Die sechs Frauen stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Die Charaktere wirken glaubwürdig und interessant.

 

Auf der inhaltlichen Ebene ist der Roman keine leichte Kost. Schonungslos werden die Schmerzen und Herausforderungen beleuchtet, die die Hormonspritzen, Eizellentnahmen und Embryotransfers bei den Frauen verursachen - sowohl in körperlicher wie auch in psychischer Hinsicht. Die vielen Fehlschläge und seelischen Nöte sind nicht leicht zu ertragen. Besonders weh taten mir jedoch beim Lesen die misogynen Widersprüchlichkeiten, denen die Frauen ausgesetzt sind: Einerseits erfahren sie besonders in Südkorea großen Druck, ein Kind auf die Welt zu bringen; andererseits wird dort von der Wirtschaft alles daran gesetzt, dass eine Schwangerschaft und Kinder Gift für eine berufliche Karriere sind. Zudem zeigt sich, dass Unfruchtbarkeit nur Frauen angelastet werden darf.

 

Dass sich die Autorin mit diesem Thema gut auskennt, verdeutlicht das Nachwort, in dem sie ihre leidlichen persönlichen Erfahrungen damit schildert. Zwar sind die Umstände hierzulande weniger drastisch. Grundsätzlich sind solche Tendenzen allerdings auch in Deutschland nicht von der Hand zu weisen, was die Lektüre in Westeuropa ebenfalls aktuell macht. Im feministischen Zusammenhang liefert der Text daher viel Material zum Nachdenken und Diskutieren.

 

Auf den 220 Seiten ist die Handlung kurzweilig und fesselnd. Sie bleibt durchweg schlüssig.

 

Das bunte, ungewöhnliche Covermotiv passt zum Thema und erregt Aufmerksamkeit. Schade, dass bei der Gestaltung künstlerische Intelligenz zum Einsatz gekommen ist.

 

Mein Fazit:

Mit „Hello Baby“ ist Kim Eui-kyung ein aufrüttelnder und aufschlussreicher Roman gelungen, der auch einen Unterhaltungswert besitzt. Lesenswert!

Vom Aufwachsen im totalitären China

Himmlischer Frieden - Lai Wen Lai, ein schüchternes und ängstliches Mädchen, wächst in eher einfachen Verhältnissen auf. Ihr Vater, ein Intellektueller, redet kaum, ihre Mutter ist distanziert. Auch ihr kleiner Bruder und ihre Großmutter gehören zu ihrem direkten Umfeld. Schon als Kind lernt sie die Härte des chinesischen Regimes kennen… „Himmlischer Frieden“ ist der Debütroman von Lai Wen. Vier Teile mit insgesamt 39 Kapiteln, an die sich ein Epilog anschließt: Die Struktur des Romans ist ebenso sinnvoll wie schlüssig. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Lai. Die Handlung umspannt im Wesentlichen die Jahre 1970 bis 1989 und spielt in China. Der Schreibstil ist eindrücklich, unaufgeregt und dank etlicher authentischer Dialoge anschaulich. Teilweise ist zudem eine poetische Note erkennbar. Im Fokus steht Lai, eine realitätsnah gezeichnete Figur. Auch die übrigen Charaktere wirken lebensecht. Nicht zufällig trägt die Protagonistin denselben Namen wie das Pseudonym der Autorin, denn der Roman hat autobiografische Züge und beinhaltet einige Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend. Er beschreibt einen nicht geringen Teil ihres Lebens, nämlich das Aufwachsen und Erwachsenwerden im totalitären China der 1970er- und 1980er-Jahre. Vorwiegend geht es dabei um zwischenmenschliche Beziehungen, zunehmend aber auch um das Eindringen der Politik in den Alltag. Freundschaften, familiäre Verbindungen und Liebe nehmen breiten Raum ein. Anders als es der Titel vermuten lässt, spielt die blutige Niederschlagung des friedlichen Aufstands im Jahr 1989 auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking nur eine sehr kleine Rolle. Dieses historische Ereignis taucht erst zum Schluss des Romans auf. Auf den rund 550 Seiten ist die Geschichte durchaus bewegend und regt zum Nachdenken an. Allerdings weist sie einige Längen auf. Das reduzierte, künstlerisch anmutende Covermotiv ist sowohl hübsch als auch inhaltlich passend. Der Titel, der sich am englischsprachigen Original („Tiananmen Square“) orientiert, weckt meiner Ansicht nach jedoch falsche Erwartungen. Mein Fazit: „Himmlischer Frieden“ Lai Wen ist ein besonderer, lesenswerter Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch interessante Einblicke bietet.

Eine äußerst ungewöhnliche Wohngemeinschaft

Der Kaiser der Freude - Ocean Vuong

East Gladness in New England (USA) im Herbst 2009: Hai, Sohn einer vietnamesischen Einwanderin, ist tablettenabhängig, gescheitert und verzweifelt. Der queere 19-Jährige hat sein Studium abgebrochen und will nun Suizid begehen. Aber Grazina, eine alte Frau und Migrantin aus Litauen, kann ihn davon gerade noch abbringen. Zwischen den beiden entsteht eine besondere Verbindung…

 

„Der Kaiser der Freude“ ist ein Roman von Ocean Vuong.

 

Aufgeteilt in 25 Kapitel, wird die Geschichte aus der Sicht von Hai erzählt. Die Handlung umspannt mehrere Monate und spielt in den Jahren 2009 und 2010.

 

Vor allem in sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman begeistert. Mit poetischer Note, authentischen Dialogen und eindrücklichen Beschreibungen: So lässt sich der atmosphärisch starke Stil charakterisieren.

 

Auch die Figuren wirken sehr lebensnah. Sie besitzen psychologische Tiefe und werden schlüssig gezeichnet. Das gilt insbesondere für Hai, den Protagonisten, dessen Denken und Fühlen nachvollziehbar geschildert wird.

 

Es geht um Menschen am Rand der Gesellschaft. Um einen Alltag außerhalb des Amerikanischen Traums. Um ein unglamouröses Leben, das viele kennen. Trostlosigkeit und Einsamkeit auf der einen, kleine Augenblicke des Glücks und Gemeinschaft auf der anderen Seite. Dadurch schafft die Geschichte einige Anknüpfungspunkte und regt zum Nachdenken an.

 

Auf den mehr als 500 Seiten ist der Roman unterhaltsam und berührend, aber wenig temporeich und ohne größere Überraschungen. Das recht offene Ende habe ich als stimmig empfunden.

 

Der deutsche Titel kommt zwar leider nicht an die Wortspielerei des Originals („The Emperor of Gladness“) heran, passt aber dennoch gut. Auch das reduzierte und gleichzeitig stimmungsvolle Cover ist gleichwohl ansprechend wie inhaltlich angemessen.

 

Mein Fazit:

Mit „Der Kaiser der Freude“ hat Ocean Vuong einen außergewöhnlichen, lesenswerten Roman geschrieben.

Eine unterschätzte Krankheit, mit der so viel zusammenhängt

Tuberkulose - John Green

Im Jahr 2019 in einem Krankenhaus in Lakka (Sierra Leone): Als John Green bei einem Besuch zufällig auf den 16-jährigen Henry Reider trifft, macht ihn das Schicksal des jungen Patienten betroffen. Bis zu diesem Tag hielt der Schriftsteller Tuberkulose für eine Krankheit der Vergangenheit. Nach der Begegnung beginnt Green zu recherchieren und zu realisieren, wie wichtig der Kampf gegen die unterschätzte Infektion ist…

 

„Tuberkulose - Es ist Zeit, die tödlichste Infektion der Welt zu besiegen“ ist ein Sachbuch von John Green.

 

Von einem Vorwort und einem Nachwort eingerahmt, besteht das Sachbuch aus 23 kurzen Kapiteln. Jedes widmet sich unterschiedliche Aspekten.

 

Der Schreibstil ist angenehm anschaulich, einfühlsam und lebhaft. Obwohl viele Daten, Zahlen, Fachbegriffe und sonstige Fakten in den Text eingearbeitet sind, ist er keineswegs trocken oder sperrig. Er richtet sich an medizinische Laien und ist sehr gut verständlich.

 

Aus inhaltlicher Sicht ist das Buch trotz der nur knapp 200 Seiten umfangreich und gehaltvoll. Es beleuchtet die Historie der Tuberkulose, insbesondere ihre Deutung und Behandlung im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte. Prominente Opfer werden genannt. Zudem geht es um einen Teil der Familiengeschichte des Autors.

 

Natürlich geht John Green außerdem auf die aktuelle Forschung und die heutigen Therapien gegen Tuberkulose ein. Er führt eindrücklich vor Augen, wie viele Menschen immer noch der Infektion erliegen und wie viel besser die Krankheit besiegt werden könnte, wenn Medikamente und Fachpersonal gerechter verteilt würden. Dass er mit Herzblut für eine bessere Versorgung von Betroffenen kämpft, wird vor allem zum Schluss des Buches deutlich. Green informiert nicht nur über Tuberkulose, sondern richtet seinen Appell an die breite Öffentlichkeit: Es muss gehandelt werden.

 

Wie die Krankheit heutzutage verläuft, schildert Green anhand des jungen Patienten Henry. Erschütternd und bewegend wird das Sachbuch vor allem bei diesen Passagen. Das Leiden des jungen Mannes, dessen Fotos abgedruckt sind, ging mir während des Lesens nahe.

 

Das moderne Covermotiv entspricht zwar nicht ganz meinem Geschmack, passt allerdings gut. Der deutsche Titel weicht deutlich ab vom englischsprachigen Original („Everything is Tuberculosis: The History and Persistence of Our Deadliest Infection“). Er gefällt mir jedoch sogar besser.

 

Mein Fazit:

Mit „Tuberkulose - Es ist Zeit, die tödlichste Infektion der Welt zu besiegen“ hat John Green ein kurzweiliges Sachbuch geschrieben, das nicht nur aufklärt und informiert, sondern auch aufrüttelt und berührt. Er nutzt seine Popularität, um für die Bekämpfung einer oft tödlichen verlaufenden Krankheit zu werben. Ein begrüßenswertes Anliegen und ein empfehlenswertes Buch!

Als Ruthie verschwand

Beeren pflücken - Amanda Peters

Juli 1962 im US-Bundesstaat Maine: Eine Mi’kmaq-Familie aus Nova Scotia (Kanada) reist an, um bei der Blaubeerernte im Sommer zu helfen. Mehrere Wochen später ist die vierjährige Ruthie, das jüngste Kind der Familie, verschwunden. Ihren Bruder Joe (6), der sie als letzter gesehen hat, trifft dieser Verlust sehr. Ihn verfolgt das mysteriöse Verschwinden jahrelang. Während er um seine kleine Schwester trauert, wächst die junge Norma als Einzelkind bei einer wohlhabenden Familie in Maine auf.

 

„Beeren pflücken“ ist der Debütroman von Amanda Peters.

 

Der Roman ist sinnvoll und nachvollziehbar strukturiert: Auf einen Prolog folgen 17 Kapitel. Erzählt wird im Wechsel in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Joe und der von Norma. Die Handlung umspannt mehrere Jahrzehnte.

 

Die Sprache des Romans ist unauffällig. Der Schreibstil ist geprägt von vielen Dialogen und anschaulichen Beschreibungen.

 

Im Vordergrund stehen Joe und Norma, zwei durchaus interessante Charaktere. Sie verfügen über ausreichend psychologische Tiefe.

 

Thematisch dreht sich die Geschichte überwiegend um Verlust und Trauer, Schuldgefühle, Abstammung und die Bedeutung von Familie. Eine Stärke des Romans liegt darin, dass die Autorin auch die Historie der Mi‘kmaq beleuchtet und damit ihren Vorfahren eine Stimme gibt. So erhalten wir Einblicke in das Leben indigener Wanderarbeiterfamilien.

 

Die rund 300 Seiten sind weniger spannend als erwartet, aber dennoch unterhaltsam und vor allem berührend.

 

Für mich erschließt sich nicht, warum der englischsprachige Originaltitel („The Berry Pickers“) in der deutschen Übersetzung verändert wurde. „Die Berrenpflücker“ wäre eine deutlich bessere Variante gewesen. Das deutsche Covermotiv passt meiner Ansicht nach jedoch gut.

 

Mein Fazit:

Mit „Beeren pflücken“ hat Amanda Peters einen bewegenden und interessanten Roman geschrieben. Ein lesenswertes Debüt!

Landlust, Landflucht, Landfrust

Hier draußen - Martina Behm

Fehrdorf in Schleswig-Holstein: Mit großen Erwartungen sind Lara und Ingo Fenske mit ihren Kindern Erik und Erin in die 200-Seelen-Gemeinde gezogen. Der selbstständige Wirtschaftsinformatiker und die freiberufliche Grafikdesignerin sind der Großstadt Hamburg entflohen und erhoffen sich auf einem ehemaligen Bauernhof am Ortsrand Ruhe und Entschleunigung. Doch die gewünschten Effekte wollen sich nicht einstellen. Als Ingos Auto mit einer weißen Hirschkuh kollidiert, macht er Bekanntschaft mit Jäger und Landwirt Uwe Hennemann. Mit den anderen Bewohnern kommt die Familie Fenske nun ebenfalls intensiver in Kontakt. Dabei wird deutlich, dass auch die Einheimischen nicht frei von Problemen sind…

 

„Hier draußen“ ist der Debütroman von Martina Behm.

 

Der Roman ist sinnvoll strukturiert. Er gliedert sich in fünf Teile mit ingesamt 47 kurzen Kapiteln. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven und in chronologischer Reihenfolge. Die Handlung umfasst ein Jahr und spielt vorwiegend, aber nicht ausschließlich im fiktiven Ort Fehrdorf und dessen unmittelbarer Umgebung.

 

Obwohl das Personal des Romans erstaunlich umfangreich ist, geht die Orientierung beim Lesen nicht verloren. Alle Charaktere erscheinen äußerst lebensnah, in sich stimmig und psychologisch ausgefeilt dargestellt. Der Mix an Figuren unterschiedlicher Generationen, Professionen und Konstellationen erzeugt ein interessantes Dorfpanorama.

 

Auf der inhaltlichen Ebene ist der Roman sehr facettenreich. Es geht einerseits um wirtschaftliche und finanzielle Probleme, vor allem die Rentabilität in der Landwirtschaft, aber auch um persönliche Herausforderungen wie Eheprobleme und gesellschaftliche Konflikte wie die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf. Dabei entwirft die Autorin ein sehr authentisches und umfassendes Bild des heutigen Landlebens. Der Roman schafft damit vielerlei Anknüpfungspunkte.

 

Trotz der immerhin fast 500 Seiten kommt die Geschichte ganz ohne Längen und Redundanzen aus. Sie ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch berührend, ohne ins Kitschige abzudriften. Die Handlung ist durchweg schlüssig und glaubwürdig.

 

Gut gefallen hat mir zudem der unaufgeregte, anschauliche Schreibstil. Die ungekünstelte Sprache mit plattdeutschen Zitaten, eindrücklichen Beschreibungen und realitätsnahen Dialogen passt hervorragend zur Geschichte.

 

Auch der prägnante Titel ist eine sehr gute Wahl. Das ungewöhnliche Covermotiv ist hübsch, legt aber zu sehr den Fokus auf die Hirschkuh, die - anders als es der Klappentext vermuten lässt - nur eine untergeordnete Rolle im Roman spielt.

 

Mein Fazit:

Mit „Hier draußen“ hat Martina Behm ein in mehrfacher Hinsicht gelungenes Debüt abgeliefert. Definitiv eine lohnende, sehr empfehlenswerte Lektüre!

Wenn alles ins Dunkel fällt

Der Einfluss der Fasane - Antje Rávik Strubel

Hella Renata Karl, Anfang 50 und Feuilletonchefin einer großen Berliner Tageszeitung, ist geschockt: Kai Hochwerth, der frühere Intendant einer der größten Bühnen in der Hauptstadt, hat sich in Sydney umgebracht. Hat Hella nicht nur die Schuld am Rausschmiss des 54-Jährigen, sondern ihn auch in den Selbstmord getrieben? Sie hatte über seinen Machtmissbrauch geschrieben. Nun steht die Journalistin am öffentlichen Pranger und erhält Hassnachrichten. Und es droht weiterer Ungemach…

 

„Der Einfluss der Fasane“ ist ein Roman von Antje Rávik Strubel.

 

Untergliedert in sieben Kapitel, wird in personaler Perspektive aus der Sicht von Hella erzählt, durchweg chronologisch, aber mit Rückblenden. Die Handlung umfasst nur wenige Wochen und spielt in Berlin, Potsdam und Umland.

 

Vor allem auf der sprachlichen Ebene hat mich der Roman beeindruckt. Die Autorin vermag es, atmosphärisch, anschaulich und bildstark zu schreiben, mit leichter Feder und ohne viele Worte zu verschwenden. Was mir ebenfalls gefallen hat: Im Text wird immer wieder der Umgang mit Sprache und Formulierungen auf gekonnte Weise reflektiert.

 

Hella ist eine reizvolle Protagonistin, jedoch keine klassische Sympathieträgerin und eine eher unbequeme Person. Sie ist sehr ehrgeizig, selbstbezogen und äußerst selbstbewusst. Um ihren Weg zu machen, hat sie Verhaltensweisen und Ansichten übernommen, die an ältere Männer erinnern. Ihr Denken und Handeln ist nicht immer leicht zu ertragen, aber in sich schlüssig und nachvollziehbar. Auch die übrigen Charaktere wirken größtenteils ausgefeilt, nur wenige Nebenfiguren sind etwas zu stereotyp geraten.

 

Auf den rund 230 Seiten wird die Geschichte von einer subtilen Spannung getragen. Wird Hella ihren Hals aus der Schlinge ziehen können? Was hat den Intendanten zu dem drastischen Entschluss getrieben? Erst Stück für Stück werden die Zusammenhänge klarer. Aus inhaltlicher Sicht hat der Roman viel Interessantes zu bieten.

 

Der Missbrauch von Macht in der Kultur- und insbesondere Theaterszene ist ein wichtiges und lohnenswertes Thema. Es geht dabei um patriarchale Herrschaftsstrukturen, internalisierte Misogynie, antifemistisches Denken und sexistisches Gehabe. Aber auch mediale Hetzjagden, die Dynamik öffentlicher Diskurse und die Auswüchse der Empörungskultur tauchen auf. Zusätzlich wurden die Aspekte von Schuld und Verantwortung sowie die Prägung der Persönlichkeit durch Klasse und Herkunft eingearbeitet. Das macht die Geschichte facettenreich und verleiht ihr Gewicht. Insgesamt bleibt der Roman jedoch zu sehr an der Oberfläche, die Botschaft des Romans wird durch die Themenfülle stark verwässert.

 

Die Fasan-Symbolik wird nicht nur konsequent im Titel und im hübschen Covermotiv aufgegriffen, sondern zieht sich auch durch den gesamten Text. Deren Bedeutung bleibt mir dennoch ebenfalls zu diffus.

 

Mein Fazit:

Mit „Der Einfluss der Fasane“ hat Antje Rávik Strubel einen lesenswerten Roman geschrieben, der auf problematische Strukturen verweist. Sprachlich überzeugend, aber inhaltlich leider zu schwammig.

Im Strom der Zeit

Flusslinien - Katharina Hagena

Margrit Raven kann auf 102 Jahre zurückschauen. Nun lebt die Witwe in einem betreuten Wohnheim am Elbufer in Hamburg, wo sie sich heimisch fühlt. Ihr Sohn Frieder, der im fernen Australien wohnt, lässt sich nicht mehr blicken. Doch Enkelin Luzie (18) besucht ihre Großmutter gerne und regelmäßig. Auch Arthur (24), der den Fahrdienst für die Senioren übernimmt, ist eine willkommene Gesellschaft. Was Margrit nicht weiß: Die beiden jungen Leute leiden unter Ereignissen, die sich vor nicht allzu langer Zeit in ihren Leben abgespielt haben…

 

„Flusslinien“ ist ein Roman von Katharina Hagena.

 

Die Struktur des Romans orientiert sich an seiner Handlung. Jedem der zwölf Tage ist ein Teil gewidmet, der sich zumeist in mehrere Kapitel gliedert. Erzählt wird im Präsens aus der Sicht der drei Hauptfiguren: Margrit, Luzie und Arthur, in chronologischer Reihenfolge, aber mit Rückblenden. Die Handlung spielt in Hamburg.

 

Begeistert hat mich die Sprache des Romans. Jeder Tag wird mit atmosphärischen, poetisch anmutenden Naturbeschreibungen, die zunächst mysteriös bleiben, eingeleitet. Der eigentliche Text des Romans setzt sich immer wieder mit Sprache und Formulierungen auseinander. Mal geht es um Kunstsprachen, mal um Redewendungen und mal um den richtigen Ausdruck. Wortspiele wie „Seh-nie-Ohren-Residenz“ und Neologismen wie „Geheimweh“ haben mir beim Lesen Freude bereitet.

 

Die drei Hauptcharaktere empfinde ich als sehr reizvoll. Die betagte Margrit ist eine ungewöhnliche Protagonistin. Auch Luzie und Arthur haben interessante Hintergründe, die sich erst nach und nach offenbaren.

 

Neben den fiktiven Figuren nimmt eine historische Persönlichkeit, die Gärtnerin Else Hoffa, für meinen Geschmack jedoch zu viel Raum im Roman ein. An ihr zeigt sich zwar die Recherchearbeit der Autorin. Dennoch ist die Verbindung der fiktiven Charaktere zu Hoffa zu lose, um die ausführlichen Passagen zu ihrer Biografie und ihrem Leben zu rechtfertigen. Mich haben diese Stellen daher zunehmend gelangweilt.

 

Thematisch ist die Geschichte sehr breit aufgestellt. Der Roman ist zugleich eine Familiengeschichte und stellt drei persönliche Schicksale dar, die geprägt sind von Trauer, Einsamkeit und anderen psychischen Problemen. In manchen Bereichen wie Atemtechniken konnte ich neues Wissen sammeln. Auf anderen Gebieten, beispielsweise die Elbvertiefung und deren Folgen für die Artenvielfalt, bleibt der Roman zu sehr an der Oberfläche.

 

Im ersten Drittel der fast 400 Seiten konnte mich die Geschichte berühren und gut unterhalten. Danach häufen sich leider langatmige Passagen und Wiederholungen. Absurde, fast schon groteske Episoden sowie unglaubwürdige Entwicklungen haben meinen Lesespaß zunehmend getrübt.

 

Der mehrdeutige Titel des Romans passt gut zum Inhalt und erschließt sich bald. Das stimmungsvolle Covermotiv ist ebenfalls sinnvoll gewählt.

 

Mein Fazit:

Mit „Flusslinien“ hat Katharina Hagena meine hohen Erwartungen bedauerlicherweise nicht komplett erfüllen können. Auf der sprachlichen Ebene hat mich das Buch überzeugt, auf der inhaltlichen in mehrfacher Hinsicht enttäuscht. Daher nur bedingt empfehlenswert.

Ein besonders gefährliches Spiel mit dem Feuer

Devil‘s Kitchen - Candice Fox

New York City an der Ostküste der USA: „Engine 99“, die Eliteeinheit der Feuerwehr, bekämpft nicht nur Brände, sondern legt sie auch, um abzulenken. Etliche große Beutezüge gehen auf das Konto der Gruppe. Andrea Nearland, eine freiberufliche Ermittlerin, ist das neueste Mitglied der Crew. Sie wurde vom FBI auf die Gruppe angesetzt. Ben ist ihr als einziger der Einheit sympathisch. Nun steht der wohl größte Coup an und es wird immer klarer, dass das Spiel mit dem Feuer für Andy sehr riskant ist.

 

„Devil‘s Kitchen“ ist ein Thriller von Candice Fox.

 

Trotz der nicht ganz simplen Struktur lässt sich die Geschichte gut nachvollziehen. Der Roman beginnt mit einem Prolog. Auf ihn folgen sechs lange Kapitel, die in weitere Abschnitte unterteilt sind. Erzählt wird fast ausschließlich aus der Perspektive von Andy und der von Ben, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge. Die Handlung umfasst die Jahre 2005 bis 2013.

 

Die Sprache des Thrillers ist teilweise etwas vulgär. Die Dialoge wirken jedoch authentisch und lebhaft, die Beschreibungen sind anschaulich.

 

Eine Stärke von Candice Fox ist das Zeichnen der Charaktere. Auch in dieser Geschichte wird sie ihrem Ruf gerecht, kantige und zugleich glaubhafte Figuren darzustellen.

 

Das Setting des neuen Buches finde ich interessant und ungewöhnlich. Dass die Autorin sorgsam recherchiert hat, ist dem Thriller an einigen Stellen anzumerken. Neben dem Schwerpunkt Feuerwehr geht es um Sexismus und toxische Männlichkeit. Damit trifft das Buch den Nerv der Zeit und gibt Denkanstöße.

 

Auf den mehr als 400 Seiten nimmt die Geschichte schnell an Tempo auf. Die Handlung ist, wie von den anderen Werken der Autorin gewohnt, durchweg kurzweilig und spannend. Auch die Auflösung, die nicht leicht vorhersehbar ist, hat mich überzeugt.

 

Das deutsche Covermotiv ist atmosphärisch und passt gut zum Inhalt. Der Titel wurde 1:1 vom Original übernommen.

 

Mein Fazit:
Mit „Devil‘s Kitchen“ stellt Candice Fox erneut unter Beweis, dass sie zu recht eine feste Größe im Spannungsgenre ist. Wieder einmal hat sie meine hohen Erwartungen erfüllt. Sehr empfehlenswert vor allem für diejenigen, die keine 08/15-Thriller lesen möchten!

Der 4. August, ein vielfacher Jahrestag

Frau im Mond - Pierre Jarawan

Die Zwillinge Lilit und Lina el Shami wachsen bei ihrem Großvater Maroun in Montréal (Kanada) auf. Vor drei Generationen sind ihre libanesischen Vorfahren ausgewandert. Als die Schwestern eine alte Postkarte von ihrer Großmutter Anoush finden, beginnen sie, sich für ihre Herkunft zu interessieren. Fragen tauchen plötzlich auf: Warum haben es dem Großvater Raketen angetan? Was hat es mit dieser Frau im Mond, die im Text der Postkarte erwähnt wird, auf sich? Lilit startet eine Recherche und folgt den Spuren bis nach Beirut (Libanon)…

 

„Frau im Mond“ ist ein Roman von Pierre Jarawan.

 

Die Struktur ist, wie bei Jarawan gewohnt, verschachtelt und sehr durchdacht: Der Roman besteht aus drei Teilen, benannt nach den Stufen einer Rakete. Die 50 Kapitel sind nummeriert, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, um einen Countdown nachzuahmen. Die Handlung umspannt mehrere Jahrzehnte. Erzählt wird vorwiegend in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Lilit, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern mit zahlreichen zeitlichen Sprüngen.

 

Das Personal des Romans ist unerwartet umfangreich. Der Fokus liegt allerdings auf Lilit und ihrer Familie. Die Figuren machen einen lebensnahen Eindruck und verfügen über psychologische Tiefe.

 

Auf der inhaltlichen Ebene hat der Roman zwei Schwerpunkte: Zum einen ist er ein unterhaltsames Familienepos, zum anderen eine interessante Auseinandersetzung mit zwei historischen bedeutsamen Ereignissen im Libanon: der Start einer Weltraumrakete im Jahr 1966 und die Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020.

 

Auf den fast 500 Seiten werden die Themen geschickt miteinander verknüpft. Die Handlung ist sowohl schlüssig als auch kurzweilig. Sie hält Überraschungen bereit.

 

Die sorgfältige und fundierte Recherche des Autors wird immer wieder deutlich, nicht erst in der ausführlichen und interessanten Danksagung. Löblicherweise hat er zudem eine Nachbemerkung verfasst, die die Geschichte um weitere historische Details ergänzt. Ein tolles Extra sind außerdem die beiden Fotos am Ende des Buches, die der Autor selbst angefertigt hat.

 

Auch in sprachlicher Hinsicht hat mich das Buch überzeugt, wenn auch nicht so sehr begeistert wie die beiden ersten Romane des Autors. Die Dialoge wirken lebhaft und authentisch. Die Beschreibungen sind anschaulich und atmosphärisch. Erneut stellt Jarawan sein erzählerisches Können unter Beweis.

 

Die Covergestaltung wirkt auf mich aufgrund des Designs, das an eine Collage erinnert, etwas unruhig. Sie passt aber genauso wie der Titel gut zur Geschichte.

 

Mein Fazit:
Zum dritten Mal ist Pierre Jarawan ein äußerst lesenswerter Roman gelungen, der zugleich aufklärt und hervorragend unterhält. Auch „Frau im Mond“ wird mir noch lange in positiver Erinnerung bleiben. Große Empfehlung!

Die unvollständige Grammatik der eigenen Familie

Die Summe unserer Teile - Paola Lopez

Berlin im Sommer 2014: Als Informatikstudentin Lucy Wittenberg (23) nach ihrem Seminar an der Universität in ihre WG zurückkehrt, steht plötzlich ein großes Klavier in ihrem Zimmer: der Steinway, auf dem sie als Kind und Jugendliche in der elterlichen Wohnung üben müsste. Was hat das zu bedeuten? Zu ihrer Mutter Daria, einer Kinderärztin, hat sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr. Lucy ahnt noch nicht, dass sie in den kommenden Tagen tief in ihre Familiengeschichte eintauchen und einiges über ihre Großmutter Lyudmila, gebürtige Polin und eine der ersten Chemikerinnen im Libanon, erfahren wird…

 

„Die Summe unserer Teile“ ist der Debütroman von Paola Lopez.

 

Die Geschichte umspannt 70 Jahre (1944 bis 2014) und spielt in Berlin, München, Beirut und Sopot. Es gibt drei Erzählstränge. Erzählt wird im Präsens aus wechselnder Perspektive: der von Lucy, der von Daria und der von Lyudmila. Angaben zu Beginn der insgesamt 19 Kapitel verhindern, dass man wegen der Zeitsprünge den Überblick verliert.

 

Besonders in sprachlicher Hinsicht hat mir der Roman gefallen. Schöne Naturbeschreibungen und ungewöhnliche, kreative Sprachbilder haben mir beim Lesen viel Freude bereitet.

 

Die drei Frauen, also Großmutter, Mutter und Enkelin, stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Drei durchaus reizvolle Protagonistinnen, jedoch keineswegs Sympathieträgerinnen. Zwar erfahren wir im Laufe des Romans die Hintergründe des Handels. Dennoch blieben mir vor allem Daria und Lyudmila bis zum Schluss fremd. Ihre Motive und Gedanken konnte ich nicht in Gänze nachvollziehen. Auch Lucy mutet in einigen Aspekten zu seltsam an.

 

Der Roman behandelt vorwiegend die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern. Es geht dabei insbesondere um das Vererben von Traumata, das Schweigen zwischen den Generationen und das Weitergeben dysfunktionaler Muster innerhalb von Familien. Unter anderem wird die Frage aufgeworfen, wann ein Kontaktabbruch sinnvoll ist, um sich oder andere vor psychischen Verletzungen zu schützen.

 

Thematisch ist die Geschichte sehr stringent und interessant. In der Umsetzung hat mich der Roman allerdings weniger überzeugt und berührt als andere Bücher mit ähnlichem Inhalt. Auf den rund 250 Seiten kommt die Handlung nur allmählich in Fahrt und wird durch langatmige Passagen mit wissenschaftlichen Ausführungen immer wieder ausgebremst. Zudem beinhaltet die Geschichte ein paar Aspekte, die ich als wenig glaubwürdig empfunden habe.

 

Das hübsche Covermotiv zeigt einen Ausschnitt eines Ölgemäldes von Lolita Pelegrime. Für mich ist jedoch nicht ganz klar, welche der Protagonistinnen dargestellt sein soll. Der Titel passt aber nach meiner Ansicht gut zur Geschichte.

 

Mein Fazit:

Mit „Die Summe unserer Teile“ hat Paola Lopez ein spannendes Thema literarisch verarbeitet. Während mich die Sprache ihres Debütromans begeistert hat, hat mich die inhaltliche Umsetzung leider enttäuscht. Nur bedingt empfehlenswert.

Das Leben neu ordnen

Halbinsel - Kristine Bilkau

Auf einer Halbinsel am nordfriesischen Wattenmeer wohnt Bibliothekarin Annett (49) im alten Haus ihrer Großtante. Nach dem frühen Tod ihres Mannes Johan lebt sie zurückgezogen. Ihre gemeinsame Tochter Linn, Ende 20, hat sie allein großgezogen. Nun engagiert sich die junge Frau in Berlin als Umweltvolontärin in einem Aufforstungsprogramm. Doch sie ist ausgebrannt und kippt während eines Vortrags plötzlich um. Die Mutter holt ihre Tochter daher zu sich. Jetzt müssen beide ihre Beziehung und ihre Leben neu ordnen…

 

„Halbinsel“ ist ein Roman von Kristine Bilkau, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.

 

Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Annett - in chronologischer Reihenfolge, aber mit einigen Rückblenden. Die Handlung umfasst mehrere Monate. Der Roman verzichtet auf Kapitel und andere Gliederungen. Der Text wird nur von größeren Absätzen unterbrochen.

 

Der Schreibstil ist unaufgeregt. Die Sprache des Romans ist klar und unprätentiös, dabei dennoch eindrücklich und einfühlsam. Vor allem die Naturbeschreibungen haben mich überzeugt.

 

Auf den nur rund 220 Seiten schreitet die Geschichte nur langsam voran. Die Handlung bleibt überschaubar. Nichtsdestotrotz entfaltet der Roman eine immer stärkere Sogkraft.

 

Im Zentrum der Geschichte steht zweifelsohne die Beziehung von Mutter und Tochter sowie der Generationenkonflikt. Sowohl Annett als auch Linn werden mit psychologischer Tiefe dargestellt und als lebensnahe Figuren gezeichnet. Man kommt ihnen sehr nahe, kann sich in sie einfühlen.

 

In inhaltlicher Hinsicht ist der Roman gehaltvoll und tiefsinnig. Neben der Familie werden weitere Themen wie der Klimawandel elegant eingeflochten.

 

Das Covermotiv ist hübsch, aber leider etwas einfallslos. Der prägnante Titel passt jedoch gut und gefällt mir.

 

Mein Fazit:
Mit „Halbinsel“ ist Kristine Bilkau ein vielschichtiger, bewegender Roman gelungen. Empfehlenswert!

Zwei tapfere Elbmädchen, drei Tragödien

Stromlinien - Rebekka Frank

Enna und Jale Eggers lieben es, mit ihrem Boot unterwegs zu sein. Die 17-jährigen Zwillingsschwestern aus dem Alten Land sind gerne in der Natur und zählen die Tage, bis ihre Mutter Alea aus ihrer langen Haft entlassen wird. Seit Jahren leben sie im Ungewissen: Was hat ihre Mutter verbrochen? Wer ist ihr Vater? Und warum machen Alea und Ehmi, die Großmutter der Mädchen, ein solches Geheimnis um die Antworten? Als endlich die Entlassung entsteht, sind plötzlich sowohl Alea als auch Jale verschwunden. Enna ist geschockt und begibt sich auf die Suche nach ihnen…

 

„Stromlinien“ ist ein Roman von Rebekka Frank.

 

Die Struktur des Romans ist komplex. Er beinhaltet 57 Kapitel, zwischen denen sich einige mysteriöse Einschübe befinden. Erzählt wird aus wechselnder Perspektive, vor allem aus der Sicht von Enna, Jale, Alea und Gunnar, dessen Verbindung zu den Mädchen erst später klar wird. Immer wieder gibt es große Zeitsprünge, die chronologische Reihenfolge wird nicht eingehalten. Die Handlung umfasst 100 Jahre: 1923 bis 2023. Sie spielt vorwiegend in Hamburg und im Alten Land.

 

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman begeistert. Treffende, teils ungewöhnliche Metaphern und Vergleiche sind an vielen Stellen zu finden. Besonders atmosphärisch und anschaulich sind die wunderbaren Naturbeschreibungen, die nur an manchen Stellen etwas ausufernd geworden sind.

 

Das Personal des Romans ist umfangreich, aber nicht zu zahlreich. Im Mittelpunkt stehen die Zwillingsschwestern Enna und Jale, wobei Erstere besonders viel Raum einnimmt. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich gut verfolgen. Die andere Schwester bleibt deutlich blasser. Nicht immer hat sich mir das Handeln und Denken von Enna, Jale und Alea in Gänze erschlossen. Die Figuren sind allerdings mit psychologischer Tiefe und in sich schlüssig dargestellt.

 

Aus inhaltlicher Sicht bietet das Buch vor allem zwei Aspekte: Sie ist einerseits ein interessanter Generationenroman und andererseits eine gleichwohl spannende wie bewegende Kriminalgeschichte. Gut gefallen hat mir, dass die Autorin nicht nur eine fiktive, sondern auch zwei historische Schiffstragödien eingearbeitet hat. In einem ausführlichen und lesenswerten Nachwort erklärt sie unter anderem die tatsächlichen Hintergründe dieser Ereignisse und erläutert, was ihrer Fantasie entstammt und was nicht. Auch politische und gesellschaftlich relevante Themen wie die Elbvertiefung sind eingeflossen und verleihen der Geschichte zusätzliches Gewicht.

 

Im ersten Drittel nimmt die Geschichte nur gemächlich Fahrt auf und enthält Längen. Danach ist der Roman jedoch zunehmend fesselnd und unterhaltsam. Unerwartete Wendungen und eine Fülle von Einfällen machen die Handlung unvorhersehbar. Das geht leider ein wenig zulasten der Glaubwürdigkeit. Insgesamt wirkt die Geschichte zudem stark konstruiert.

 

Das hübsche und kreative Covermotiv passt außerordentlich gut zum Roman. Auch der prägnante, zweideutige Titel ist eine hervorragende Wahl.

 

Mein Fazit:
Mit „Stromlinien“ ist Rebekka Frank ein empfehlenswerter Roman gelungen, der in mehrfacher Weise Unterhaltungswert besitzt und mit sprachlicher Schönheit glänzt. Nur was die Glaubwürdigkeit der Handlung angeht, hat mich die Geschichte nicht völlig überzeugt.