Auserlesenes - Blog für Buchrezensionen

Süchtig nach Büchern, Kaffee und Schokolade 

 

 

Mr. Saitos

Mr. Saitos reisendes Kino - Annette Bjergfeldt

reisendes Kino

Wenn es doch bloß ein Paralleluniversum gäbe

Da, wo ich dich sehen kann - Jasmin Schreiber

Es ist der 12. November 2024, als Emma Kopmann (30) in ihrer Wohnung in Hamburg erdrosselt wird - getötet von Frank, dem Vater ihrer gemeinsamen Tochter Maja (9). Das Mädchen verliert mit einem Mal ihre Familie und ihr Zuhause. Ihre Patentante Liv, eine Astrophysikerin, versucht, die Neunjährige aufzufangen und sie für das Weltall zu begeistern…

 

„Da, wo ich dich sehen kann“ ist ein Roman von Jasmin Schreiber.

 

Erzählt wird die Geschichte aus wechselnder Perspektive, unter anderem aus der Sicht von Maja und Liv. Dabei besteht der Roman aus mehr als 50 kurzen Kapiteln.

 

Die Sprache ist eingängig und ungekünstelt, aber eindringlich, anschaulich und atmosphärisch. Die Dialoge klingen glaubwürdig. Für stilistische Abwechslung sorgen eingefügte Dokumente und Protokolle.

 

Vor allem Maja und Liv stehen im Zentrum der Geschichte. Die Hauptfiguren verfügen über viel psychologische Tiefe. Ihr Innenleben mit all ihren Emotionen und Gedanken wird sehr gut ausgeleuchtet und ist durchweg nachvollziehbar. Dadurch kommt man den Charakteren sehr nahe.

 

Die Geschichte behandelt einen Femizid und seine Folgen. Inspiriert zu diesem Roman  wurde die Autorin tragischerweise von einem wahren Fall in ihrer Nachbarschaft. Er lenkt den Blick auf ein wichtiges Problem, verschafft den Opfern Sichtbarkeit und leistet einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Debatte. Unter anderem entlarvt er das strukturelle Versagen von Politik und Gesellschaft, die Ignoranz und Tatenlosigkeit gegenüber (häuslicher) Gewalt und weitere Defizite. Die Geschichte zeigt auf, wie schnell Frauen und Kinder zu Opfern werden können und dass Femizide nahezu überall stattfinden. Positiv hervorzuheben: Zum Schluss des Buches sind Stellen aufgelistet, an die sich Frauen und Männer wenden können, um zum Thema häusliche Gewalt Hilfe zu finden.

 

Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt ist die Astrophysik. Wie schon in ihren früheren Romanen schafft es die Autorin erneut, wissenschaftliche Fakten auf unterhaltsame und interessante Weise einzubinden.

 

Auf den mehr als 400 Seiten hat mich die Geschichte daher einerseits immer wieder geschockt und berührt. Andererseits vermittelt der Roman einiges Wissenswerte.

 

Die gebundene Ausgabe weist viele liebevolle Details auf: zum Beispiel die abgedruckten Sternbilder zu Beginn der Kapitel, der Farbverlauf im Buchschnitt und ergänzende Zeichnungen. Ebenfalls eine schöne Komponente: Das ungewöhnliche Cover, das sehr gut zur Geschichte passt, hat die Autorin selbst entworfen. Auch der mehrdeutige Titel ist eine vortreffliche Wahl.

 

Mein Fazit:

Mit „Da, wo ich dich sehen kann“ ist Jasmin Schreiber wieder einmal ein gleichsam bewegender wie aufschlussreicher Roman gelungen. Nach „Marianengraben“ zählt nun auch ihre neue Geschichte zu meinen Lieblingsbüchern. Ein äußerst empfehlenswertes Highlight im Leseherbst 2025!

Die Frau der Stunde

Die Frau der Stunde - Heike Specht

Ja ich bin auch gerade erst aufgestanden 

No Way Home

No Way Home - T. C. Boyle

Kann man das nicht einfach so lassen

Bruderlose Nacht

Der brennende Garten - V. V. Ganeshananthan

Das Jahr 1981 in Jaffna im Norden von Sri Lanka: Die fast 16-jährige Sashikala Kulenthiren, genannt Sashi, möchte Ärztin werden. Aber dann bricht ein brutaler und langer Bürgerkrieg aus und reißt ihre Heimatstadt auseinander. Zwei ihrer Brüder werden in die Auseinandersetzung hineingezogen und schließen sich den Kämpfern an - mit fatalen Folgen. Auch K, ein ein Jahr älterer Junge aus der Nachbarschaft, für den sie Gefühle entwickelt hat, ist bei den Tamil Tigers.

 

„Der brennende Garten“ ist ein Roman von V. V. Ganeshananthan, der unter anderem mit dem Women's Prize for Fiction im Jahr 2024 ausgezeichnet worden ist.

 

Der Roman ist sehr klar strukturiert: Auf einen Prolog folgen fünf Teile, die sich wiederum in insgesamt 20 Kapitel gliedern. Die Haupthandlung umspannt die Jahre 1981 bis 1989 und spielt vor allem in der Stadt Jaffna und in Colombo (beides Sri Lanka). Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Sashi.

 

Die Sprache ist klar, aber nicht platt. Die Dialoge wirken lebensnah. Die Beschreibungen sind eindringlich.

 

Die Tamilin Sashi ist eine interessante Protagonistin: intelligent, mutig und sympathisch. Eine authentische Figur, mit der ich mitfühlen konnte.

 

Die Geschichte schildert die Kindheit und Jugend Sashis, das Aufwachsen in einer besonders schwierigen Zeit. Es ist also einerseits ein Coming-of-Age-Roman.

 

Andererseits beleuchtet die Geschichte das Entstehen und den Verlauf des Bürgerkriegs, das Bestreben der Tamilen nach Unabhängigkeit und den Pogrom von 1958. Dabei ist dem Roman die intensive, fundierte Recherche anzumerken. Er wirft Fragen auf: Was bedeutet Terrorismus? Was macht ein Bürgerkrieg mit ganz normalen Menschen und insbesondere Frauen? Wie ist man sich selbst treu im Umfeld von Gewalt und Schrecken? Zudem spielen Unterdrückung, Diskriminierung und feministische Aspekte eine Rolle. Dies alles verleiht der Geschichte Facettenreichtum und Tiefe.

 

Auf den mehr als 450 Seiten ist Roman kurzweilig und berührend. Die Handlung ist zwar immer wieder dramatisch, bleibt aber stimmig und glaubwürdig.

 

Der deutsche Titel klingt gleichermaßen poetisch wie dramatisch, weicht aber erheblich vom englischsprachigen Original („Brotherless Night“) ab. Das passende Covermotiv hingegen orientiert sich an den fremdsprachigen Ausgaben.

 

Mein Fazit:
„Der brennende Garten“ von V. V. Ganeshananthan ist nicht nur eine sehr bewegende Lektüre, sondern auch ein Buch, das interessante Einblicke in die Historie Sri Lankas bietet. Ein in mehrerer Hinsicht empfehlenswerter Roman.

Wilder Honig

Wilder Honig - Caryl Lewis

Ja das stimmt 

Unmoralische Allianzen

Hustle - Julia Bähr

Leonie Hendricks, 30, ist eigentlich Pflanzengenetikerin, braucht aber einen beruflichen Neuanfang. Deshalb nimmt sie in München einen Job an, der nicht zu ihrer Expertise passt. Trotzdem ist das Geld knapp. Da lernt sie eine Frau kennen, die mit zweifelhaften Methoden ihren Lebensunterhalt verdient. Leonie ist fasziniert. Sie entschließt sich, künftig auch auf unkonventionelle und unmoralische Weise an Geld zu kommen…

 

„Hustle“ ist ein Roman von Julia Bähr.

 

Erzählt wird die Geschichte in 46 kurzen Kapiteln aus der Sicht von Leonie. Die chronologische Handlung umfasst etliche Monate.

 

Die Sprache ist unauffällig und wenig kunstvoll, aber anschaulich und der Geschichte angemessen. Die Dialoge wirken sehr lebensnah.

 

Leonie ist eine zugleich reizvolle, interessante und unbequeme Protagonistin. Nicht alle ihre Entscheidungen und Reaktionen konnte ich komplett nachvollziehen. Dennoch habe ich ihre Gedanken und ihr Handeln gerne verfolgt.

 

Auf der inhaltlichen Ebene geht es vor allem um weibliche Wut und Selbstbefreiung. Freundinnenschaft und persönliche Weiterentwicklung spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Text ist zudem durchzogen von kritischen Passagen: an den absurd hohen Mieten und prekären Verhältnissen in Großstädten, am Kapitalismus, an der Konsumgesellschaft, an der Benachteiligung von Frauen, an der vorherrschenden Misogynie und ähnlichen Aspekten. Das alles macht den Roman facettenreich und äußerst aktuell. Die Geschichte liefert immer wieder Denkimpulse.

 

Auf den wenig mehr als 300 Seiten ist der Roman unterhaltsam und kurzweilig. Zwar ist die Handlung nicht durchweg realistisch, allerdings sehr witzig. Auch das etwas überraschende Ende fühlt sich für mich stimmig an.

 

Der Titel hat sich mir nicht auf Anhieb erschlossen, passt jedoch gut zum Inhalt. Das Cover, eine ebenfalls treffliche Wahl, finde ich sehr ansprechend gestaltet.

 

Mein Fazit:

Mit „Hustle“ ist Julia Bähr ein vielschichtiger, humorvoller und intelligenter Roman gelungen, der mich bestens unterhalten hat. Meine Neugier auf weitere Bücher der Autorin ist nun geweckt.

Die Wichtigkeit von Nichts

Dr. No - Percival Everett

Wala Kitu, der eigentlich Ralph Townsend heißt, ist Mathematiker und Professor an der Brown University in Providence (USA). Er hat sich auf das Nichts spezialisiert. Der Wissenschaftler ist Mitte 30, als John Milton Bradley Sill, ein Multimilliardär, auf ihn aufmerksam wird. Der reiche Schurke macht ihm ein unmoralisches Angebot, das der Experte kaum ablehnen kann. Sill hat es auf den Goldspeicher in Fort Knox abgesehen, genauer gesagt: auf das Nichts, das er im großen Tresorraum vermutet. Aber wie schafft man dieses fort? Bei dieser und anderen Fragen soll ihm Wala Kitu für drei Millionen Dollar behilflich sein…

 

„Dr. No“ ist ein Roman von Percival Everett.

 

Der Roman ist eher kleinteilig aufgebaut. Erzählt wird in elf Teilen, die jeweils aus mehreren Kapiteln bestehen, in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Wala.

 

In sprachlicher Hinsicht sind vor allem die lustigen, exzessiv genutzten Wortspielereien auffällig. Das betrifft in erster Linie das Wort „nichts“. Aber auch eine Menge sprechender Namen, Mehrdeutigkeiten, Metaphorik und Symbolik steckt in dem herausfordernden Text, übersetzt von Nikolaus Stingl. Dabei wechselt der Roman zwischen flotten, umgangssprachlichen Dialogen und Gedankengängen im Fachjargon.

 

Auf den nur wenig mehr als 300 Seiten mutet die Handlung teilweise etwas nach Klamauk an. Nicht alle Szenen und Wendungen wirken realistisch, vieles hat sogar skurrile oder absurde Züge. Die Figuren sind recht schräg und überspitzt dargestellt. Das liegt auch daran, dass die Geschichte als eine Satire oder Persiflage auf die James-Bond-Filme zu lesen ist. Das lässt bereits der trefflich gewählte Titel erahnen, der 1:1 aus dem englischsprachigen Original übernommen wurde. Auch zu weiteren Filmen gibt es Referenzen.

 

Dennoch hält der Roman einige ernste Themen bereit. Insbesondere nehmen philosophische Gedanken und mathematische Exkurse viel Raum in der Geschichte ein, allen voran das Nichts. Obwohl nicht alle theoretischen Ausführungen für Laien in Gänze nachvollziehbar sind oder zum Teil sogar verwirren, haben mich diese Passagen nur geringfügig gestört.

 

Darüber hinaus enthält die Geschichte immer wieder Verweise auf bedenkliche Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit: Verschwörungstheorien, Machtmissbrauch, das Erstarken rechter, radikaler und faschistischer Ideologien, die Auflösung der Gewaltenteilung und ähnliche politische Tendenzen. Darin fügt sich eine latente Kapitalismuskritik ein.

 

Zudem ist ein weiterer Aspekt früherer Romane auch in dieser Geschichte zu finden: der Alltagsrassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung, der hier erneut pointiert geschildert und angeprangert wird.

 

Mein Fazit:

Wie bei „Die Bäume“ ist Percival Everett eine ungewöhnliche, verrückte Geschichte gelungen, die von Wortwitz, absurden Szenen, einer speziellen Komik, aber auch gesellschaftskritischen Elementen geprägt ist. Mit „Dr. No“ hat mich der Autor wieder einmal auf intelligente Art sehr gut unterhalten und zugleich überraschen können. Definitiv lesenswert!

Schuld und Schweigen im Sumpfland

Unsere letzten wilden Tage - Anna Bailey

Jacknife am Atchafalaya-Becken im US-Bundesstaat Louisiana: Die Journalistin Loyal May hat ihre beste Freundin Cutter Labasque verloren. Doch nach dem Fund der Leiche im matschigen Sumpf scheint sich niemand sonst um die Aufklärung der Sache zu scheren. Der Tod der Außenseiterin wird als Suizid abgetan. Doch Loyal glaubt nicht daran. Sie stößt bei ihrer Suche nach Antworten auf ein Netz aus Schweigen, Lügen und Schuld…

 

„Unsere letzten wilden Tage“ ist ein literarischer Spannungsroman von Anna Bailey.

 

Die Geschichte besteht aus 46 Kapiteln, die von einem Prolog eingeleitet werden. Erzählt wird im Präsens aus der Perspektive von Loyal, aber auch denen weiterer Personen, wobei es immer wieder zeitliche Sprünge gibt. Obwohl die Struktur des Romans durchaus komplex ist, lässt sich die Geschichte sehr gut nachverfolgen.

 

Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch und bildstark. Besonders die Naturbeschreibungen sind eindrucksvoll. Die Dialoge, teilweise der Gegend entsprechend etwas vulgär, wirken authentisch.

 

Die Figuren machen ebenfalls einen lebensnahen Eindruck. Loyal ist eine interessante und glaubhafte Protagonistin. Sie wird mit psychologischer Tiefe dargestellt. Aber auch die anderen Charaktere sind nicht zu stereotyp geraten.

 

Wie schon beim Debütroman von Anna Bailey liegt ein Schwerpunkt auf Gewalt gegenüber Frauen. Auch darüber hinaus ist der Inhalt recht düster. Es geht um Armut, um Perspektivlosigkeit, um Korruption und dergleichen mehr.

 

Auf den etwa 38 Seiten ist das Erzähltempo zwar nicht zwar schnell. Die Handlung kommt nur langsam voran. Dennoch erzeugt die Geschichte einen Lesesog, denn sie bleibt durchgängig spannend und ausreichend undurchsichtig.

 

Das hübsche, recht harmonische Covermotiv ist ein wenig irreführend, denn es lässt eher auf ein anderes Genre schließen. Der deutsche Titel ist wortgetreu aus  englischsprachigen Original übersetzt und passt zum Inhalt.

 

Mein Fazit:

„Unsere letzten wilden Tage“ von Anna Bailey ist ein gelungener Roman, der mehr als nur einen rätselhaften Todesfall behandelt. Eine vielschichtige und definitiv lesenswerte Geschichte, die sowohl inhaltlich als auch sprachlich überzeugen kann.

Von Göttern und Dämonen

Monstergott - Caroline Schmitt

Esther und ihr jüngerer Bruder Ben wachsen in einer evangelikalen Freikirche auf und engagieren sich dort. Doch beide Geschwister, die zusammen wohnen, haben ein Problem. Ben trägt ein Geheimnis mit sich herum, das zwischen ihm und Gott steht. Auch Esther tut sich zunehmend schwer damit, sich in ihre vorgesehene Rolle zu fügen…

 

„Monstergott“ ist ein Roman von Caroline Schmitt.

 

Die Struktur des Romans erschließt sich schnell: Auf einen Prolog folgen 19 kurze Kapitel. Erzählt wird im Wechsel aus der Sicht von Ben und Esther.

 

Die Sprache ist klar und schnörkellos, aber zugleich atmosphärisch. An einigen Stellen tauchen kreative Metaphern auf. Die Dialoge wirken lebensnah.

 

Esther und Ben sind zwei interessante, wenn auch eher ungewöhnliche Hauptfiguren. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich sehr gut miterleben, selbst wenn man selbst weniger gläubig sein sollte.

 

Der christliche Glauben und die Religion spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte. Besonders die zunehmende Beliebtheit von Freikirchen beleuchtet der Roman mit kritischem Blick. Es geht um Scheinheiligkeit, Doppelmoral, Dämonenaustreibung, Sünde und Unterwerfung. Immer wieder legt die Geschichte den Finger in die Wunde. Auch misogyne Regeln und Muster entlarvt und hinterfragt sie. So setzt die Lektüre mehrere Denkimpulse.

 

Schon auf den ersten der ingesamt rund 260 Seiten hat mich der Roman in seinen Bann gezogen. Die Handlung erscheint in sich stimmig.

 

Das symbolträchtige, plakative Cover gefällt mir gut. Auch der Titel des Romans ist eine sehr gute Wahl.

 

Mein Fazit:

Nach „Liebewesen“ ist Caroline Schmitt wieder ein eindringlicher und beeindruckender Roman mit gesellschaftlicher Relevanz gelungen, der sowohl auf der inhaltlichen als auch der sprachlichen Ebene überzeugen kann. Ein Jahreshighlight 2025!

Pumpen, pushen, posen

Gym - Verena Keßler

Sie braucht den Job im „Mega Gym“ dringend, will es ihrer Bewährungshelferin beweisen. Und lügt nicht jeder einmal im Vorstellungsgespräch? Um ihren Erdnussflipbauch und ihr unsportliches Aussehen zu rechtfertigen, behauptet sie gegenüber Ferhat, dem Betreiber des Fitnessstudios, dass sie erst vor Kurzem entbunden habe. Doch nicht nur das wird ihr zum Verhängnis…

 

„Gym“ ist ein Roman von Verena Keßler.

 

Der Roman ist stark strukturiert: Er besteht aus drei Teilen, die jeweils mit einem Prolog eingeleitet werden und insgesamt fast 40 Kapitel umfassen. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht der namenlosen Protagonistin.

 

Die Sprache ist ungekünstelt, bisweilen reduziert, aber anschaulich, atmosphärisch, bildstark und keineswegs platt. Die flotten, umgangssprachlichen Dialoge wirken authentisch.

 

Die Protagonistin wird interessant und mit psychologischer Tiefe dargestellt. Dass sie ihre Fehler und Schwächen hat und wahrlich nicht perfekt ist, wird bereits auf den ersten Seiten ersichtlich. Dennoch oder gerade deswegen ist sie für mich ein reizvoller Charakter.

 

Der Roman vereint viele Themen. Es geht einerseits um Mutterschaft, Misogynie und andere feministische Aspekte. Andererseits übt die Geschichte Kritik am Selbstoptimierungswahn, Leistungsdruck, ungesunden Obsessionen, den Auswüchsen und Absurditäten des Fitnesskults, der permanenten Selbstdarstellung, Scheinwelten, der zelebrierten Oberflächlichkeit und ähnlichen Problemen. Das macht den Roman sehr facettenreich.

 

Auf weniger als 200 Seiten ist die Geschichte nicht nur inhaltlich vielseitig und dicht, sondern auch unterhaltsam. Zudem konnte sie mich mit einer unerwarteten Wendung überraschen.

 

Das ungewöhnliche Covermotiv weckt Aufmerksamkeit und passt hervorragend zum Inhalt. Auch der knappe, prägnante Titel sticht hervor und harmoniert mit der Geschichte.

 

Mein Fazit:

Nach „Eva“ ist Verena Keßler erneut ein wichtiger, erhellender und kurzweiliger Roman gelungen, den ich gerne weiterempfehlen kann. Mit „Gym“ hat sie einen ungewöhnlichen und in mehrfacher Hinsicht überzeugenden Text geschaffen. Ein Lesehighlight im Sommer 2025!

Puzzleteile aus Erinnerungen

Onigiri - Yuko Kuhn

Ihre Großmutter Yasuko ist 102 Jahre alt geworden, bevor sie starb. Doch weder Aki noch ihre Mutter Keiko haben sie in deren letzten Jahren gesehen. Die Nachricht vom Tod Yasukos bringt Aki auf eine Idee. Die Ehefrau und dreifache Mutter möchte es der dementen Keiko ermöglichen, noch einmal in deren alte Heimat Japan zu reisen. Das weckt viele alte Erinnerungen.

 

„Onigiri“ ist der Debütroman von Yuko Kuhn.

 

Erzählt wird die Geschichte in zwölf Kapiteln im Präsens und in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Aki. Dabei gibt es zwei Stränge: zum einen die gegenwärtigen Ereignisse rund um die Reise nach Japan, zum anderen die Rückblicke auf Akis Kindheit und Jugend. So umspannt die Geschichte mehrere Jahrzehnte.

 

Zwei Frauen sind die Protagonistinnen des Romans: Aki und Keiko, psychologisch sauber ausgearbeitete Charaktere, die mit ihren Fehlern und Schwächen sehr realitätsnah erscheinen. Vor allem Akis Gedanken und Gefühle sind gut greifbar. Auch ihre Entwicklung im Laufe der Zeit wirkt schlüssig und nachvollziehbar. Dennoch blieben mir die Figuren immer noch ein Stück weit fremd.

 

Das Thema Familie nimmt breiten Raum in der Geschichte ein. Es geht um familiäre Dynamiken und Verhältnisse, insbesondere um die Beziehung zwischen Töchtern und ihren Müttern. Ein weiterer Schwerpunkt ist das Leben und Aufwachsen zwischen verschiedenen Kulturen und Identitäten. Die innerliche Zerrissenheit zeigt sich vor allem bei Keiko. Aber auch Aki sitzt zwischen den Stühlen, was ihr als Kind und Jugendliche besonders zu schaffen macht. Glaubwürdig werden außerdem die Demenz und ihr Fortschreiten geschildert, das dritte große Thema. Das alles macht die nur 200 Seiten umfassende Lektüre überraschend facettenreich.

 

Auf unterhaltsame Weise liefert die Geschichte immer wieder kleine Einblicke in die japanische Kultur. Hier und da werden japanische Wörter und Namen eingestreut, die im Glossar erklärt werden.

 

Dass der Roman autobiografische Züge erhält, ist ihm an mehreren Stellen anzumerken. Er wirkt authentisch, klischeefrei und ungeschönt. Der sprunghafte, oft abrupte Wechsel zwischen einzelnen Erinnerungsfragmenten hat meinen Lesefluss allerdings immer wieder unterbrochen.

 

Der Titel des Romans bezieht sich auf die japanischen Reisbällchen, die die Protagonistin sehr gerne isst, ihr Soulfood. Sie sind zugleich eine Metapher und auf dem Cover auf künstlerisch ansprechende Weise abgebildet, sodass beides gut miteinander und mit der Geschichte harmoniert.

 

Mein Fazit:

Mit „Onigiri“ ist Yuko Kuhn ein vielschichtiges und glaubhaftes Debüt gelungen.

Elas weiterer Weg

Junge Frau mit Katze - Daniela Dröscher

Ela ist ausgezogen und erwachsen geworden. Gerade befindet sie sich im Examensstress. Sie hat Angst zu versagen. Da beginnt ihr Körper zu rebellieren. Zwischen verschiedenen Arztterminen stürmen einige Fragen auf sie ein…

 

„Junge Frau mit Katze“ ist ein Roman von Daniela Dröscher, der an „Lügen über meine Mutter“ anknüpft.

 

Die Geschichte wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Ela erzählt. Zwischen den insgesamt zwölf Kapiteln stehen Zitate der japanischen Schriftstellerin Yōko Tawada. Kreativ: Die Überschriften der Kapitel sind Titel von Büchern, die ebenfalls vom Körper erzählen oder in anderer Weise zu diesem Roman passen. In kurzen Zwischenkapiteln sind Erinnerungen und Reflexionen an ihre Mutter eingestreut.

 

Nur auf den ersten Blick wirkt die Sprache unspektakulär. Immer wieder finden sich besondere Bilder und Formulierungen. Der Text steckt voller klugen Gedanken und bleibt gleichzeitig leichtfüßig.

 

Zwar ist die Kenntnis von „Lügen über meine Mutter“ nicht zwingend erforderlich, um den Roman zu verstehen und genießen zu können. Dennoch ist es zu empfehlen, zunächst die frühere Geschichte zu lesen.

 

Während es im ersten Ela-Roman vor allem um Übergewicht, Bodyshaming und patriarchale Strukturen ging, spielt der Körper auch in dieser Geschichte eine zentrale Rolle. Gesundheitliche Probleme nehmen breiten Raum im Roman ein, sowohl in Form von physischen Symptomen als auch auf der mentalen Seite.

 

Auf der inhaltlichen Ebene werden erneut toxische Beziehungen innerhalb der Familie beleuchtet. Darüber hinaus sind die Themen Selbstfindung und Selbstermächtigung von großer Bedeutung. Auch diesmal werden Impulse zum Nachdenken geliefert. Bei diesem Roman hatte ich allerdings weniger Aha-Momente.

 

Auf den rund 300 Seiten hat die Autorin wiederum autobiografische Elemente mit Fiktion vermischt. Die Figuren sind wieder einmal glaubwürdig und lebensnah gestaltet. Die Geschichte habe ich stellenweise jedoch als zähflüssig und bisweilen sogar etwas redundant gefunden.


Das Covermotiv ist ebenso farbenfroh wie beim ersten Ela-Roman, jedoch weniger abstrakt und daher nach meiner Ansicht gelungener. Allerdings finde ich den Titel diesmal nicht so aussagekräftig und reizvoll.

 

Mein Fazit:

Mit „Junge Frau mit Katze“ konnte mich Daniela Dröscher nicht so überzeugen wie mit dem ersten Ela-Roman. Obwohl die Geschichte nicht an „Lügen über meine Mutter“ herankommt, habe ich auch dieses Buch gerne gelesen.

Die Rollen unseres Lebens

Die Probe - Katie Kitamura

In einem Restaurant in Manhattan (New York): Eine Schauspielerin (49) ist mit Xavier (25) zum Mittagessen verabredet. Sie steckt mitten in den Proben für ein Theaterstück, er hat sein Studium noch nicht beendet und möchte praktische Erfahrungen sammeln. Da wird ein Verdacht geäußert: Könnte es sein, dass die beiden Mutter und Sohn sind?

 

„Die Probe“ ist ein Roman von Katie Kitamura, der für die Longlist des Booker-Preises 2025 nominiert ist.

 

Erzählt wird in 13 kurzen Kapiteln in der Ich-Perspektive aus der Sicht der namenlosen Schauspielerin. Dabei spaltet sich der Roman in zwei Teile, zwischen denen sich ein harter Bruch befindet. Eine überraschende wie kreative Struktur.

 

Der Text ist geprägt von einer klaren, nüchternen Sprache, aber atmosphärisch stark und wortgewandt. Der innere Monolog der Protagonistin wird immer wieder durch Dialoge ununterbrochen. Die Übersetzung von Henning Ahrens ist größtenteils unauffällig.

 

Auf den weniger als 180 Seiten ist der Text inhaltlich sehr dicht und facettenreich. Der Roman wirft Fragen von allgemeiner Gültigkeit auf: Was ist Realität und was ein Trugbild oder Einbildung? Wie passt unser Selbstbild mit der Wahrnehmung anderer zusammen? Kennen wir unsere Liebsten wirklich? Welche Dynamiken wirken in der Familie? Wie verändert Mutterschaft das Leben? Diese Gedanken schwirren der Protagonistin im Kopf herum.

 

Dabei greift die Autorin im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn auf die Analogie des Theaters zurück: Wir alle spielen, bewusst oder unbewusst, verschiedene Rollen auf der Bühne des Lebens.

 

Wie die namenlose Protagonistin bleiben die Leser mit einigen Fragen zurück, denn der Roman ist ein mehrfaches Vexierspiel und liefert viel Raum für Spekulation und Interpretation. Was ist wirklich passiert, was nur Show? Wie hängen die beiden Teile zusammen? In welcher Beziehung stehen die Figuren untereinander? Beim Lesen steigert sich die Verwirrung, verschwimmen die Grenzen zunehmend und schwinden die Gewissheiten. So entsteht ein komplexes Puzzle mit widersprüchlichen Teilen, das sich unmöglich komplett zusammensetzen lässt.

 

Schon von den ersten Seiten an strahlt die Geschichte eine Faszination aus und entwickelt einen Sog, dem ich mich nur schwer entziehen konnte. Tagelang hat mich der Roman intensiv beschäftigt, immer wieder Denkprozesse ausgelöst und nicht aus seinem Bann gelassen.

 

Das etwas mysteriöse Covermotiv harmoniert gut mit dem Inhalt. Der deutsche Titel ist nicht so passgenau wie das englischsprachige Original („Audition“), geht für mich aber ebenfalls in Ordnung.

 

Mein Fazit:

Nach „Intimitäten“ ist Katie Kitamura erneut ein ungewöhnlicher, anspruchsvoller und tiefschürfender Roman gelungen, der mich beeindruckt und auf allen Ebenen überzeugt hat. „Die Probe“ steht verdientermaßen auf der Booker-Liste. Ein Jahreshighlight 2025, das noch lange nachhallen wird.

Dickhäuterdebakel in Deutschland

Das Geschenk - Gaea Schoeters

Mitten in der Spree nimmt ein Elefantenbulle ein Bad. Doch schon bald ist da mehr als nur ein Tier und die afrikanischen Elefanten sind nicht mehr nur in Berlin anzutreffen.

Bundeskanzler Hans Christian Winkler ist überfordert und ratlos: Wo kommen die wilden Dickhäuter her? Und wie wird man sie wieder los? Das Chaos nimmt seinen Lauf…

 

„Das Geschenk“ ist ein satirischer Roman von Gaea Schoeters.

 

Der kurze Roman gliedert sich in vier Teile mit mehreren knappen Kapiteln. Erzählt wird im Präsens und in chronologischer Reihenfolge, aber mit größeren Zeitsprüngen und wechselnden Perspektiven. Dabei deckt die Handlung einen Zeitraum von 434 Tagen, also mehr als ein Jahr, ab.

 

Der Schreibstil ist - trotz des eher gehobenen Sprachniveaus - wunderbar leichtfüßig und zugleich anschaulich. Die Dialoge wirken durchaus authentisch. Die Übersetzung von Lisa Mensing kommt angenehm unauffällig daher.

 

Trotz der bloß knapp 140 Seiten ist das Personal überraschend umfangreich, jedoch nicht zu überladen. Die Figuren sind an reale deutsche Politiker angelehnt, dabei aber nicht komplett mit den tatsächlichen Persönlichkeiten identisch.

 

Bei dem Kurzroman handelt es sich um eine Politsatire. Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück. In Botswana gibt es zu viele Elefanten: rund 130.000. Im Sommer 2025 hatte ein Ex-Präsident des Landes die Legalisierung des Elfenbeinhandels gefordert und Deutschland 20.000 Tiere angeboten. Was wäre, wenn die Bundesrepublik wirklich so viele Elefanten aufnehmen müsste? Dieser Frage geht die Autorin nach.

 

Dabei beleuchtet der Kurzroman problematische Tendenzen, insbesondere die Panikpolitik, Populismus, Globalisierung und Neo-Kolonialismus. Immer wieder gibt es Vergleiche zur Asyl- und Flüchtlingspolitik. Strategien und Mechanismen wie das Shifting Baseline Syndrome werden beiläufig und anschaulich erklärt. So werden die wirklichen Hintergründe und Motive politischer Entscheidungen entlarvt. Gleichzeitig ist die Geschichte ein Plädoyer für mehr Klima- und Naturschutz.

 

Der kurze Roman ist durchweg unterhaltsam. Auf der inhaltlichen Ebene haben mich nur kleinere Details gestört, auf die ich nicht eingehen kann, ohne zu viel zu verraten.

 

Der Titel der deutschen Ausgabe wurde wortgetreu aus dem Niederländischen („Het geschenk“) übernommen. Der imposante Elefant auf dem Umschlag passt gut zur Geschichte. Leider wurde das Covermotiv von einer KI generiert.

 

Mein Fazit:

Mit „Das Geschenk“ ist Gaea Schoeters ein gehaltvoller Literatur-Snack gelungen. Eine kurzweilige, empfehlenswerte Satire.

Zwei Frauen zwischen zwei Welten

Wohin du auch gehst - Christina Fonthes

Als sie gerade einmal zwölf Jahre alt ist, wird Bijoux nach Unruhen in Kinshasa nach London geschickt. Hier verliebt sie sich zum ersten Mal - und zwar in eine Frau. Das will sie vor ihrer streng religiösen Tante Mireille, die sich früher Mira nannte, verbergen. Doch auch ihre Tante trägt ein Geheimnis aus der Vergangenheit mit sich herum…

 

„Wohin du auch gehst“ ist der Debütroman von Christina Fonthes.

 

Die Struktur des Romans ist weder banal noch verwirrend: Es gibt vier Teile, die aus mehreren Kapiteln bestehen und mit einem Prolog eingeleitet werden. Dabei gibt es unterschiedliche Ebenen: Die Handlung spielt teilweise in London (Großbritannien), teilweise in Kinshasa (Kongo) und zwischendurch in Brüssel und Paris. Es gibt zeitliche Sprünge zwischen 1974 und 2007. Für Komplexität sorgt zudem, dass im Wechsel erzählt wird: aus personaler Perspektive aus der Sicht von Mira und in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Bijoux. Dennoch fällt die Orientierung dank der Angaben zu Beginn der Kapitel leicht.

 

Die Sprache ist leichtfüßig, schnörkellos, anschaulich und gleichzeitig literarisch. Der Text enthält immer wieder Wörter der afrikanischen Sprache Lingala, die größtenteils in einem abgedruckten Glossar erklärt werden. Die deutsche Übersetzung von Michaela Grabinger ist angenehm unauffällig.

 

Die zwei Protagonistinnen sind interessant und sympathisch. Sie wirken lebensnah, weitestgehend frei von Stereotypen und verfügen über psychologische Tiefe.

 

Vordergründig geht es um zwei Frauenschicksale. Bei der Lektüre entfalten sich dann mehrere Schwerpunkte: Es geht um Queerness, um Diskriminierung, um Emanzipation sowie um religiöse und traditionelle Erwartungen, die dem entgegenstehen. Darüber hinaus spielen Mutter-Tochter-Beziehungen, Lebenslügen und Familiengeheimnisse eine wichtige Rolle. Auch die Themen Herkunft und Migration sind von Bedeutung. Gut gefallen hat mir, dass Diversität in mehrfacher Hinsicht auf elegante Weise eingeflochten. Der Roman ist überraschend facettenreich und vielschichtig.

 

Auf den rund 400 Seiten entwickelt die Geschichte schnell einen Sog. Die Handlung ist glaubwürdig und zugleich unterhaltsam.

 

Das verlagstypische Cover, das ein Gemälde von Tamara Tashna Downes zeigt, ist durchaus passend, wenn auch nicht so aussagekräftig wie das der Originalausgabe. Der deutschsprachige Titel ist verkürzt, aber ansonsten wortgetreu („Where You Go, I Will Go“) übernommen.

 

 

Mein Fazit:

Mit ihrem vielversprechenden Debüt „Wohin du auch gehst“ macht Christina Fonthes Lust auf ihre künftigen Romane. Eine empfehlenswerte Lektüre!