Auserlesenes - Blog für Buchrezensionen

Süchtig nach Büchern, Kaffee und Schokolade 

 

 

Der 4. August, ein vielfacher Jahrestag

Frau im Mond - Pierre Jarawan

Die Zwillinge Lilit und Lina el Shami wachsen bei ihrem Großvater Maroun in Montréal (Kanada) auf. Vor drei Generationen sind ihre libanesischen Vorfahren ausgewandert. Als die Schwestern eine alte Postkarte von ihrer Großmutter Anoush finden, beginnen sie, sich für ihre Herkunft zu interessieren. Fragen tauchen plötzlich auf: Warum haben es dem Großvater Raketen angetan? Was hat es mit dieser Frau im Mond, die im Text der Postkarte erwähnt wird, auf sich? Lilit startet eine Recherche und folgt den Spuren bis nach Beirut (Libanon)…

 

„Frau im Mond“ ist ein Roman von Pierre Jarawan.

 

Die Struktur ist, wie bei Jarawan gewohnt, verschachtelt und sehr durchdacht: Der Roman besteht aus drei Teilen, benannt nach den Stufen einer Rakete. Die 50 Kapitel sind nummeriert, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, um einen Countdown nachzuahmen. Die Handlung umspannt mehrere Jahrzehnte. Erzählt wird vorwiegend in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Lilit, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern mit zahlreichen zeitlichen Sprüngen.

 

Das Personal des Romans ist unerwartet umfangreich. Der Fokus liegt allerdings auf Lilit und ihrer Familie. Die Figuren machen einen lebensnahen Eindruck und verfügen über psychologische Tiefe.

 

Auf der inhaltlichen Ebene hat der Roman zwei Schwerpunkte: Zum einen ist er ein unterhaltsames Familienepos, zum anderen eine interessante Auseinandersetzung mit zwei historischen bedeutsamen Ereignissen im Libanon: der Start einer Weltraumrakete im Jahr 1966 und die Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020.

 

Auf den fast 500 Seiten werden die Themen geschickt miteinander verknüpft. Die Handlung ist sowohl schlüssig als auch kurzweilig. Sie hält Überraschungen bereit.

 

Die sorgfältige und fundierte Recherche des Autors wird immer wieder deutlich, nicht erst in der ausführlichen und interessanten Danksagung. Löblicherweise hat er zudem eine Nachbemerkung verfasst, die die Geschichte um weitere historische Details ergänzt. Ein tolles Extra sind außerdem die beiden Fotos am Ende des Buches, die der Autor selbst angefertigt hat.

 

Auch in sprachlicher Hinsicht hat mich das Buch überzeugt, wenn auch nicht so sehr begeistert wie die beiden ersten Romane des Autors. Die Dialoge wirken lebhaft und authentisch. Die Beschreibungen sind anschaulich und atmosphärisch. Erneut stellt Jarawan sein erzählerisches Können unter Beweis.

 

Die Covergestaltung wirkt auf mich aufgrund des Designs, das an eine Collage erinnert, etwas unruhig. Sie passt aber genauso wie der Titel gut zur Geschichte.

 

Mein Fazit:
Zum dritten Mal ist Pierre Jarawan ein äußerst lesenswerter Roman gelungen, der zugleich aufklärt und hervorragend unterhält. Auch „Frau im Mond“ wird mir noch lange in positiver Erinnerung bleiben. Große Empfehlung!

Die unvollständige Grammatik der eigenen Familie

Die Summe unserer Teile - Paola Lopez

Berlin im Sommer 2014: Als Informatikstudentin Lucy Wittenberg (23) nach ihrem Seminar an der Universität in ihre WG zurückkehrt, steht plötzlich ein großes Klavier in ihrem Zimmer: der Steinway, auf dem sie als Kind und Jugendliche in der elterlichen Wohnung üben müsste. Was hat das zu bedeuten? Zu ihrer Mutter Daria, einer Kinderärztin, hat sie seit drei Jahren keinen Kontakt mehr. Lucy ahnt noch nicht, dass sie in den kommenden Tagen tief in ihre Familiengeschichte eintauchen und einiges über ihre Großmutter Lyudmila, gebürtige Polin und eine der ersten Chemikerinnen im Libanon, erfahren wird…

 

„Die Summe unserer Teile“ ist der Debütroman von Paola Lopez.

 

Die Geschichte umspannt 70 Jahre (1944 bis 2014) und spielt in Berlin, München, Beirut und Sopot. Es gibt drei Erzählstränge. Erzählt wird im Präsens aus wechselnder Perspektive: der von Lucy, der von Daria und der von Lyudmila. Angaben zu Beginn der insgesamt 19 Kapitel verhindern, dass man wegen der Zeitsprünge den Überblick verliert.

 

Besonders in sprachlicher Hinsicht hat mir der Roman gefallen. Schöne Naturbeschreibungen und ungewöhnliche, kreative Sprachbilder haben mir beim Lesen viel Freude bereitet.

 

Die drei Frauen, also Großmutter, Mutter und Enkelin, stehen im Mittelpunkt der Geschichte. Drei durchaus reizvolle Protagonistinnen, jedoch keineswegs Sympathieträgerinnen. Zwar erfahren wir im Laufe des Romans die Hintergründe des Handels. Dennoch blieben mir vor allem Daria und Lyudmila bis zum Schluss fremd. Ihre Motive und Gedanken konnte ich nicht in Gänze nachvollziehen. Auch Lucy mutet in einigen Aspekten zu seltsam an.

 

Der Roman behandelt vorwiegend die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern. Es geht dabei insbesondere um das Vererben von Traumata, das Schweigen zwischen den Generationen und das Weitergeben dysfunktionaler Muster innerhalb von Familien. Unter anderem wird die Frage aufgeworfen, wann ein Kontaktabbruch sinnvoll ist, um sich oder andere vor psychischen Verletzungen zu schützen.

 

Thematisch ist die Geschichte sehr stringent und interessant. In der Umsetzung hat mich der Roman allerdings weniger überzeugt und berührt als andere Bücher mit ähnlichem Inhalt. Auf den rund 250 Seiten kommt die Handlung nur allmählich in Fahrt und wird durch langatmige Passagen mit wissenschaftlichen Ausführungen immer wieder ausgebremst. Zudem beinhaltet die Geschichte ein paar Aspekte, die ich als wenig glaubwürdig empfunden habe.

 

Das hübsche Covermotiv zeigt einen Ausschnitt eines Ölgemäldes von Lolita Pelegrime. Für mich ist jedoch nicht ganz klar, welche der Protagonistinnen dargestellt sein soll. Der Titel passt aber nach meiner Ansicht gut zur Geschichte.

 

Mein Fazit:

Mit „Die Summe unserer Teile“ hat Paola Lopez ein spannendes Thema literarisch verarbeitet. Während mich die Sprache ihres Debütromans begeistert hat, hat mich die inhaltliche Umsetzung leider enttäuscht. Nur bedingt empfehlenswert.

Das Leben neu ordnen

Halbinsel - Kristine Bilkau

Auf einer Halbinsel am nordfriesischen Wattenmeer wohnt Bibliothekarin Annett (49) im alten Haus ihrer Großtante. Nach dem frühen Tod ihres Mannes Johan lebt sie zurückgezogen. Ihre gemeinsame Tochter Linn, Ende 20, hat sie allein großgezogen. Nun engagiert sich die junge Frau in Berlin als Umweltvolontärin in einem Aufforstungsprogramm. Doch sie ist ausgebrannt und kippt während eines Vortrags plötzlich um. Die Mutter holt ihre Tochter daher zu sich. Jetzt müssen beide ihre Beziehung und ihre Leben neu ordnen…

 

„Halbinsel“ ist ein Roman von Kristine Bilkau, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.

 

Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Annett - in chronologischer Reihenfolge, aber mit einigen Rückblenden. Die Handlung umfasst mehrere Monate. Der Roman verzichtet auf Kapitel und andere Gliederungen. Der Text wird nur von größeren Absätzen unterbrochen.

 

Der Schreibstil ist unaufgeregt. Die Sprache des Romans ist klar und unprätentiös, dabei dennoch eindrücklich und einfühlsam. Vor allem die Naturbeschreibungen haben mich überzeugt.

 

Auf den nur rund 220 Seiten schreitet die Geschichte nur langsam voran. Die Handlung bleibt überschaubar. Nichtsdestotrotz entfaltet der Roman eine immer stärkere Sogkraft.

 

Im Zentrum der Geschichte steht zweifelsohne die Beziehung von Mutter und Tochter sowie der Generationenkonflikt. Sowohl Annett als auch Linn werden mit psychologischer Tiefe dargestellt und als lebensnahe Figuren gezeichnet. Man kommt ihnen sehr nahe, kann sich in sie einfühlen.

 

In inhaltlicher Hinsicht ist der Roman gehaltvoll und tiefsinnig. Neben der Familie werden weitere Themen wie der Klimawandel elegant eingeflochten.

 

Das Covermotiv ist hübsch, aber leider etwas einfallslos. Der prägnante Titel passt jedoch gut und gefällt mir.

 

Mein Fazit:
Mit „Halbinsel“ ist Kristine Bilkau ein vielschichtiger, bewegender Roman gelungen. Empfehlenswert!

Zwei tapfere Elbmädchen, drei Tragödien

Stromlinien - Rebekka Frank

Enna und Jale Eggers lieben es, mit ihrem Boot unterwegs zu sein. Die 17-jährigen Zwillingsschwestern aus dem Alten Land sind gerne in der Natur und zählen die Tage, bis ihre Mutter Alea aus ihrer langen Haft entlassen wird. Seit Jahren leben sie im Ungewissen: Was hat ihre Mutter verbrochen? Wer ist ihr Vater? Und warum machen Alea und Ehmi, die Großmutter der Mädchen, ein solches Geheimnis um die Antworten? Als endlich die Entlassung entsteht, sind plötzlich sowohl Alea als auch Jale verschwunden. Enna ist geschockt und begibt sich auf die Suche nach ihnen…

 

„Stromlinien“ ist ein Roman von Rebekka Frank.

 

Die Struktur des Romans ist komplex. Er beinhaltet 57 Kapitel, zwischen denen sich einige mysteriöse Einschübe befinden. Erzählt wird aus wechselnder Perspektive, vor allem aus der Sicht von Enna, Jale, Alea und Gunnar, dessen Verbindung zu den Mädchen erst später klar wird. Immer wieder gibt es große Zeitsprünge, die chronologische Reihenfolge wird nicht eingehalten. Die Handlung umfasst 100 Jahre: 1923 bis 2023. Sie spielt vorwiegend in Hamburg und im Alten Land.

 

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman begeistert. Treffende, teils ungewöhnliche Metaphern und Vergleiche sind an vielen Stellen zu finden. Besonders atmosphärisch und anschaulich sind die wunderbaren Naturbeschreibungen, die nur an manchen Stellen etwas ausufernd geworden sind.

 

Das Personal des Romans ist umfangreich, aber nicht zu zahlreich. Im Mittelpunkt stehen die Zwillingsschwestern Enna und Jale, wobei Erstere besonders viel Raum einnimmt. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich gut verfolgen. Die andere Schwester bleibt deutlich blasser. Nicht immer hat sich mir das Handeln und Denken von Enna, Jale und Alea in Gänze erschlossen. Die Figuren sind allerdings mit psychologischer Tiefe und in sich schlüssig dargestellt.

 

Aus inhaltlicher Sicht bietet das Buch vor allem zwei Aspekte: Sie ist einerseits ein interessanter Generationenroman und andererseits eine gleichwohl spannende wie bewegende Kriminalgeschichte. Gut gefallen hat mir, dass die Autorin nicht nur eine fiktive, sondern auch zwei historische Schiffstragödien eingearbeitet hat. In einem ausführlichen und lesenswerten Nachwort erklärt sie unter anderem die tatsächlichen Hintergründe dieser Ereignisse und erläutert, was ihrer Fantasie entstammt und was nicht. Auch politische und gesellschaftlich relevante Themen wie die Elbvertiefung sind eingeflossen und verleihen der Geschichte zusätzliches Gewicht.

 

Im ersten Drittel nimmt die Geschichte nur gemächlich Fahrt auf und enthält Längen. Danach ist der Roman jedoch zunehmend fesselnd und unterhaltsam. Unerwartete Wendungen und eine Fülle von Einfällen machen die Handlung unvorhersehbar. Das geht leider ein wenig zulasten der Glaubwürdigkeit. Insgesamt wirkt die Geschichte zudem stark konstruiert.

 

Das hübsche und kreative Covermotiv passt außerordentlich gut zum Roman. Auch der prägnante, zweideutige Titel ist eine hervorragende Wahl.

 

Mein Fazit:
Mit „Stromlinien“ ist Rebekka Frank ein empfehlenswerter Roman gelungen, der in mehrfacher Weise Unterhaltungswert besitzt und mit sprachlicher Schönheit glänzt. Nur was die Glaubwürdigkeit der Handlung angeht, hat mich die Geschichte nicht völlig überzeugt.

Eine Strafverteidigerin mit getrübtem Urteilsvermögen

Dunkle Momente - Elisa Hoven

Eva Herbergen (62) hat beschlossen, ihre Zulassung als Anwältin nach mehr als 30 Jahren zurückzugeben. Für die Strafverteidigerin ist die Zeit gekommen, ihren Beruf aufzugeben. Bei der Entscheidung spielte nicht nur ihr Alter eine Rolle, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie in der Vergangenheit mehrere Fehler in ihrem Job gemacht hat…

 

„Dunkle Momente“ ist ein Roman von Elisa Hoven.

 

Eingerahmt von einem Pro- und einem Epilog, gliedert sich der Roman in neun Kapitel, die jeweils einem Kriminalfall gewidmet sind. Sie sind immer gleich aufgebaut: Zunächst wird der jeweilige Fall mehr oder weniger ausführlich geschildert, danach Herbergens Vorgehen, der Prozess und die abschließende Darstellung, was falsch gelaufen ist. Erzählt wird überwiegend in der Ich-Perspektive aus der Sicht der Strafverteidigerin, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge. Dennoch fällt die Orientierung dank der Zwischenüberschriften leicht.

 

Neben den jeweiligen Opfern und Tätern ist Protagonistin Eva eine der Hauptfiguren. Sie ist keine klassische Sympathieträgerin, denn es wird schnell deutlich, dass sie sich sowohl in ihrem Beruf als auch im Privaten Verfehlungen geleistet hat. Ihre Gedanken und Motivationen sind für mich sehr gut ersichtlich, wenn auch nicht immer nachvollziehbar.

 

Die neun Fälle zeigen die Diskrepanz zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Moral und Gesetz. Sie sind allesamt interessant und gleichzeitig vertrackt. Immer wieder wird ein Dilemma geschildert. Es handelt sich jeweils um Situationen, die die Strafverteidigerin gefordert, sie auf die Probe gestellt und in eine knifflige Lage gebracht haben. Das regt zum Nachdenken und Diskutieren an.

 

Jeder Fall ist dabei unterschiedlich gelagert: Mal geht es um Notwehr, mal um Vergewaltigung, mal um Mord, mal um Wirtschaftskriminalität usw. Die Schilderungen lesen sich spannend. Es gibt unerwartete Wendungen und überraschende Entwicklungen, was die rund 300 Seiten kurzweilig gestaltet. Allerdings machen die dargestellten Fälle auch betroffen und schockieren. Besonders dann, wenn man weiß, dass die Geschichten zumindest zum Teil lose auf realen Fällen beruhen. Leider bleibt die Autorin ein Nachwort schuldig, was Aufschluss über Fakten und Fiktion gegeben hätte.

 

Die Sprache des Romans ist unauffällig, aber klar, authentisch und anschaulich. Die Erklärungen sind trotz juristischer Details für Laien leicht verständlich. Eine Schwäche des Romans sind jedoch die Rahmenhandlung und insbesondere die erzählerische Verbindung der Fälle, die für meinen Geschmack zu wenig ausgearbeitet ist. Vor allem erscheint es insgesamt als wenig glaubwürdig, dass eine einzige Strafverteidigerin mit gleich neun solch recht spektakulärer Fälle zu tun gehabt haben soll. Möglicherweise hätte ein Sachbuch dem Konzept besser Rechnung getragen.

 

Überaus gelungen ist in meinen Augen dagegen das symbolträchtige, reduzierte Covermotiv. Auch der prägnante Titel passt hervorragend zum Buch.

 

Mein Fazit:

„Dunkle Momente“ von Elisa Hoven ist ein inhaltlich interessanter Roman, der einige Denkimpulse liefern und Aha-Momente hervorrufen kann. Durchaus lesenswert, jedoch auf erzählerischer Ebene ausbaufähig.

Eine Familie, zwei vermisste Kinder

Der Gott des Waldes - Liz Moore

August 1975 in Camp Emerson in den Adirondack Mountains im US-Bundesstaat New York: Barbara Van Laar (13) nimmt zum ersten Mal am Sommercamp im Naturreservat ihrer reichen Familie teil. Anfangs verläuft alles normal. Doch eines Morgens ist die Jugendliche plötzlich verschwunden. Ist sie bloß abgehauen oder ist etwas Schreckliches passiert? Während der fieberhaften Suche kommen bei vielen die Erinnerungen an Barbaras Bruder hoch, der 14 Jahre zuvor vermisst gemeldet wurde und seitdem nicht mehr aufgetaucht ist. Hängen beide Fälle zusammen?

 

„Der Gott des Waldes“ ist ein Roman von Liz Moore.

 

Die Struktur des Romans ist sehr komplex: Er besteht aus sieben Teilen mit mehreren Kapiteln. Dabei gibt es drei Haupterzählstränge: einer betrifft den ersten Vermisstenfall, einer den zweiten und einer die Zeit vor dem Verschwinden des Erstgeborenen. Die Handlung spielt zu verschiedenen Zeitpunkten von der 1950er-Jahren bis zum September 1975. Dabei springt der Roman hin und her. Dennoch fällt es dank eines Zeitstrahls zu Beginn der Kapitel leicht, sich zurechtzufinden. Erzählt wird außerdem aus überraschend vielen Perspektiven. Die Landkarte in den Innenklappen hilft bei der räumlichen Orientierung.

 

Das Personal des Romans ist erstaunlich umfangreich: Immer wieder werden neue Charaktere eingeführt. Nicht nur die Mitglieder von Barbaras Familie, sondern auch die Angestellten und Teilnehmenden des Sommercamps sowie das Team der Ermittelnden und andere Figuren tauchen auf. So entsteht ein breites Gesellschaftspanorama. Trotz der vielen Personen werden alle handelnden Charaktere mit ihrem individuellen Hintergrund und mit psychologischer Tiefe dargestellt.

 

Vordergründig geht es in der Geschichte um zwei mysteriöse Vermisstenfälle. Diesbezüglich werden einige Fährten ausgelegt. Es gibt überraschende Enthüllungen und unerwartete Wendungen. Beeindruckend ist das Geflecht an Zusammenhängen, Beziehungen und Verknüpfungen. Obwohl der Roman knapp 600 Seiten umfasst, bleibt die Geschichte undurchsichtig, unterhaltsam und durchweg spannend. Sie kommt gänzlich ohne Wiederholungen oder langatmige Passagen aus. Zudem erscheinen die Handlung und die Auflösung der beiden Fälle stimmig.

 

Doch es greift zu kurz, die Geschichte bloß als Spannungsroman zu verstehen. Vielmehr wird hier ein umfangreiches Porträt der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten gezeichnet. Es geht um bedenkliche Strukturen in wohlhabenden Familien, die sich von Generation zu Generation fortsetzen, und das Verhalten einflussreicher Personen gegenüber finanziell Schwächeren. Es geht auch um innerfamiliäre Beziehungen und die Stellung der Frau.

 

So verschachtelt und facettenreich der Inhalt, so klar und schnörkellos ist die Sprache. Dennoch passen die authentischen Dialoge und anschaulichen Beschreibungen ebenfalls gut zur Geschichte.

 

Das ungewöhnliche, gelungene Covermotiv rundet den Roman ab. Nur der Titel, dessen deutsche Übersetzung nahe am englischsprachigen Original („The God of The Woods“) bleibt, erschließt sich mir nicht so ganz.

 

Mein Fazit:

Nach „Long Bright River“ hat mich Liz Moore erneut überzeugt. Auch mit „Der Gott des Waldes“ ist der Autorin ein spannender und vielschichtiger Roman mit Tiefgang und zugleich hohem Unterhaltungswert gelungen. Definitiv empfehlenswert!

Wie der Faschismus alltäglich wurde

Ginsterburg - Arno Frank

Auch in der Kleinstadt Ginsterburg hat der Nationalsozialismus Einzug gehalten. Während Blumenhändler Otto Gürckel zum Kreisleiter aufgestiegen ist, hat es Buchhändlerin Merle Siebert zunehmend schwer. Sie zieht ihren Sohn Lothar alleine groß und hat den Überblick verloren, welche Bücher mittlerweile verboten sind. Auch Redakteur Eugen von Wieland muss auf der Hut sein. Sie ahnen noch nicht, wie viel Leiden und Probleme sie erwarten…


„Ginsterburg“ ist ein Roman von Arno Frank.

 

Die Geschichte ist komplex, aber nicht zu kompliziert komponiert. Die Handlung umfasst die Jahre 1935, 1940 und 1945. Dementsprechend gliedert sich der Roman in drei Teile, die wiederum in jeweils vier Kapitel unterteilt sind. Dazwischen gibt es Einschübe des Absturzes eines englischen Fliegers, Briefe und andere Dokumente. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven.

 

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman überwiegend begeistert. Starke Sprachbilder und gelungene Wortspiele sind einige seiner Pluspunkte. Die Dialoge wirken authentisch, die Beschreibungen sind eindrücklich und anschaulich. Gestört hat mich lediglich die unnötige Verwendung rassistischer Beleidigungen.

 

Mit seiner Geschichte entwirft Frank ein vielschichtiges Gesellschaftspanarama einer fiktiven deutschen Kleinstadt während der Zeit des Nationalsozialismus. Es gibt überzeugte Rassisten, Profiteure des neuen Regimes, Mitläufer, Kritiker und Opfer. Das Personal des Romans ist daher umfangreich. Dennoch fällt es nicht schwer, den Überblick zu behalten. Die Hauptfiguren sind mit psychologischer Tiefe ausgestattet. Mit nur einer einzigen Ausnahme sind sie zudem klischeefrei gestaltet. Neben rein fiktiven Charakteren tauchen historische Persönlichkeiten wie Lothar Sieber auf, die zum Teil verfälscht dargestellt werden. Ein Nachwort, das über solche Aspekte aufklärt, wäre hilfreich gewesen.

 

Wie kann es soweit kommen, dass sich eine Gesellschaft normaler, durchschnittlicher Leute zunehmend dem Faschismus verschreibt? Wie kann es sein, dass sich mehr und mehr Menschen schuldig machen und dass sie einen brutalen Krieg unterstützen? Solchen Fragen geht der Roman nach und liefert historische Details, die nicht jeder schon genüge von der NS-Zeit gehört hat. Parallelen zur Gegenwart können gezogen werden. So erscheint das Thema nach wie vor aktuell. Leider haben sich ein paar Fehler und Ungenauigkeiten bei den historischen Daten und Fakten eingeschlichen, beispielsweise wird Hitlers Berghof in Garmisch verortet.

 

Beeindruckt hat mich, dass die Geschichte trotz der knapp 430 Seiten ohne Längen und Redundanzen auskommt. Die Handlung bleibt außerdem durchweg stimmig. Auch das spektakuläre Ende wirkt schlüssig.

 

Sowohl der prägnante Titel als auch das Covermotiv, bedauerlicherweise von einer KI generiert, passen hervorragend. Sie runden den Roman ab.

 

Mein Fazit:
Mit „Ginsterburg“ ist Arno Frank ein empfehlenswerter Roman gelungen. Politisch und gesellschaftlich relevant, unterhaltsam, aufrüttelnd.

Wer ist die Lieblingstochter?

Mickey und Arlo - Morgan Dick

Vorschullehrerin Mickey Morris (33), eigentlich Michelle, trifft der Tod ihres Vaters Adam Kowalski (61) nicht sehr. Ihr alkoholkranker Erzeuger und ihre Mutter haben sich bereits in Mickeys Kindheit getrennt. Nun soll sein Nachlass unerwartet an sie gehen: 5,5 Millionen Dollar. Doch an das Erbe geknüpft ist die Bedingung, dass Mickey eine Therapie macht. Ausgerechnet ihre Halbschwester Charlotte, genannt Arlo, sitzt ihr dabei als Psychologin gegenüber. Das allerdings wissen die beiden nicht…

 

„Mickey und Arlo“ ist der Debütroman von Morgan Dick.

 

Die Struktur des Romans ist einfach, aber funktional: Er besteht aus 32 Kapiteln, die mit einem Epilog enden. Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge abwechselnd aus der Sicht von Mickey und der von Arlo.

 

Die Sprache ist anschaulich, ungekünstelt und angemessen. Der Schreibstil ist geprägt von lebhaften, authentischen Dialogen.

 

Im Fokus stehen die titelgebenden Protagonistinnen, zwei interessante, durchaus lebensnah dargestellte Charaktere. Ihre Gedanken und Gefühle werden sehr gut deutlich. Einige Nebenfiguren wie Arlos Mutter wirken ein wenig überzeichnet und klischeehaft, was mich jedoch nicht besonders gestört hat.

 

Vordergründig geht es um eine Familiengeschichte. In thematischer Hinsicht ist der Roman aber noch mehr als das. Psychische Erkrankungen und Traumata sowie Alkoholabhängigkeit sind drei inhaltliche Schwerpunkte. Sie verleihen der Geschichte Tiefe und Facettenreichtum.

 

Auf den rund 400 Seiten ist die Handlung unterhaltsam, humorvoll und zugleich bewegend. Mehrfach konnte mich der Roman überraschen.

 

Der deutsche Titel weicht erheblich vom englischsprachigen Original („Favourite Daughter“) ab, passt aber ebenso gut. Besser gefällt mir jedoch das Covermotiv der Originalausgabe.

 

Mein Fazit:

Mit „Mickey und Arlo“ ist Morgan Dick ein empfehlenswertes Romandebüt gelungen. Eine Geschichte für schöne Lesestunden.

Franka und die Dorfnazis

Unter Grund - Annegret Liepold

München im Sommer 2017: Mit einer Klasse besucht Referendarin Franziska Zimmermann, genannt Franka, den NSU-Prozess. Dabei kommen plötzlich Erinnerungen an ihre Schulzeit hoch, als sie in rechte Kreise geraten ist…

 

„Unter Grund“ ist der Debütroman von Annegret Liepold.

 

Die äußere Struktur des Romans ist simpel: Es gibt neun Kapitel. Erzählt wird aus der Sicht von Franka allerdings auf zwei Zeitebenen: einerseits in Frankas Referendarzeit im Jahr 2017 und andererseits während ihrer Schulzeit im Jahr 2006. Die Handlung spielt in Bayern.

 

Die Sprache ist bildstark und sehr atmosphärisch. Die anschaulichen Beschreibungen und lebensnahen Dialoge haben mir gut gefallen.

 

Protagonistin Franka ist eine äußerst interessante Figur. Sie wird zwar mit psychologischer Tiefe dargestellt, kommt jedoch leider teilweise melodramatisch rüber und wirkt dadurch selbst im Jahr 2017 noch unreif.

 

Thematisch dominieren die Fragen, wie junge Leute in rassistische und rechtsextreme Kreise geraten können und wie der Absprung gelingen kann. Dargestellt wird, wie attraktiv die Gemeinschaft auf Außenseiter wie Franka wirken kann und wie empfänglich gerade unsichere Heranwachsende, insbesondere Mobbingopfer oder Personen mit instabilem Umfeld, für extreme politische Positionen sind. Diesbezüglich ist die Protagonistin ein gutes Beispiel. Zugleich wird in der Geschichte aufgezeigt, wie familiäre Einflüsse und Prägungen eine rechte Gesinnung begünstigen können.

 

Auf den rund 250 Seiten werden darüber hinaus weitere Themen angeschnitten, was den Roman vielschichtig und gehaltvoll macht, ihn zugleich aber zerfasert. Nach den zahlreichen Andeutungen in den ersten Kapiteln habe ich die Geschichte insgesamt zudem als etwas unspektakulär empfunden.

 

Das schöne Covermotiv ist sowohl in optischer als auch in inhaltlicher Hinsicht eine gute Wahl. Der mehrdeutige Titel passt ebenfalls hervorragend.

 

Mein Fazit:

Mit „Unter Grund“ ist Annegret Liepold ein empfehlenswerter Debütroman gelungen, der mich vor allem auf der sprachlichen Ebene überzeugt hat. Trotz kleinerer Schwächen hat mich auch der Inhalt nicht enttäuscht.

Zusammenhalt ist der Deal

Wenn wir lächeln - Mascha Unterlehberg

Mitte der Nullerjahre im Ruhrgebiet: Zufällig lernen sich die Jugendlichen Jara und Anto kennen, als sie 13 Jahre alt sind. Die heranwachsenden jungen Frauen wohnen als Einzelkinder bei ihren alleinerziehenden Müttern. Während Anto keine Geldsorgen kennt, kommt Jara aus einfachen Verhältnissen. Dennoch halten beide sofort zusammen. Aus Langeweile streifen sie durch die Stadt, gehen feiern, konsumieren Alkohol, Zigaretten und Drogen. Mit dem Gesetz nehmen sie es nicht so genau. Kann das auf Dauer gutgehen?

 

„Wenn wir lächeln“ ist der Debütroman von Mascha Unterlehberg.

 

Die Struktur des Romans ist nur auf den ersten Blick simpel: Er gliedert sich - nach einem Prolog - in zwei Teile mit insgesamt 83 kurzen Kapiteln. Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Jara, allerdings auf zwei Ebenen und nicht chronologisch. Es gibt immer wieder Zeitsprünge, Vorausdeutungen und Rückblenden. Sogar einzelne Szenen sind gesplittet und verteilen sich über mehrere Kapitel. Diese raffinierte Erzählstruktur funktioniert sehr gut.

 

Unklar bleibt, wo genau die Geschichte spielt und wie viel Zeit sie umfasst. Die vielen zeitgenössischen Referenzen, beispielsweise das Sparabo für Klingeltöne, die Mode, Lieder und Filme, bieten jedoch eine Menge Anknüpfungspunkte.

 

Die Sprache passt zum jugendlichen Alter der Protagonistinnen. Sie ist roh, ungekünstelt und direkt. Auffällig sind die vielen Dialoge, die sehr authentisch wirken. Verschiedene Stilmittel werten den Text literarisch auf.

 

Sowohl Jara als auch Anto werden vielschichtig und mit psychologischer Tiefe dargestellt. Ihre Zweifel, ihre Unsicherheiten, ihre teils widersprüchlichen Gefühle, ihre Fehler und Schwächen, all dies macht sie zu glaubwürdigen Figuren ihrer Altersgruppe. Ihre Entwicklung ist nachvollziehbar und stimmig.

 

Zwei Themen stehen im Vordergrund der Geschichte. Da ist einerseits die besondere Freundschaft zweier jungen Frauen, die auch in schwierigen Momenten füreinander einstehen. Sie verlassen sich aufeinander, beschützen sich gegenseitig, weil es sonst keiner tut. Und da ist andererseits der bedenkliche Umgang mit weiblichen Personen in der Gesellschaft. Immer wieder zeigt der Roman misogyne und sexistische Muster auf, die bereits Minderjährige mit voller Wucht treffen: unerwünschte Berührungen, anzügliche Blicke, vulgäre Sprüche, sexualisierte Gewalt und vieles mehr. Was machen diese tagtäglichen Erfahrungen in der Stadt mit weiblichen Jugendlichen, die gerade erst dabei sind, erwachsen zu werden? Wie fühlt es sich an, sich ständig damit konfrontiert zu sehen, meistens ohne dass jemand einschreitet? Das leuchtet der Roman aus und setzt damit feministische Denkimpulse.

 

Auf den rund 250 Seiten enthält die Geschichte überraschende Elemente und entfaltet einen zunehmend stärkeren Lesesog. Immer intensiver wird das Gefühl, dass es zwischen den beiden zum Konflikt kommen könnte oder etwas Dramatisches bevorsteht. Das Ende wird dieser Erwartung gerecht und ist absolut schlüssig. Gut gefallen hat mir auch, dass die Geschichte nicht bis ins kleinste Detail auserzählt wird.

 

Das Cover ist hübsch. Etwas passender hätte ich ein Motiv mit zwei Gesichtern empfunden. Der mehrdeutige Titel ist hingegen eine vorzügliche Wahl.

 

Mein Fazit:
Mit „Wenn wir lächeln“ hat mich Mascha Unterlehberg in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Ein lesenswertes Debüt und eines meiner Highlights im Lesefrühjahr 2025!

Bloß raus aus der Platte

Achtzehnter Stock - Sara Gmuer

Wanda hat es so satt. Seit Längerem träumt sie davon, als Schauspielerin durchzustarten. Doch eine ungeplante Schwangerschaft hat ihre Karriere beendet, bevor sie überhaupt losgehen konnte. Statt die Ausbildung auf der Schauspielschule zu beenden, muss sich die alleinerziehende Mutter nun um ihre fünfjährige Tochter Karlie kümmern. In ihrer schäbigen Wohnung im 18. Stock eines Berliner Plattenbaus fristen die beiden ihr Dasein mit Geldsorgen und Langeweile. Als schließlich doch ein vielversprechender Anruf kommt, schmeißt ihr das Schicksal erneut Steine in den Weg. Doch Wanda weigert sich, ihren Traum aufzugeben…

 

„Achtzehnter Stock“ ist ein Roman von Sara Gmuer.

 

Vor allem die raue, sehr passende Sprache des Romans hat mich begeistert. Ungewöhnliche, kreative Bilder, authentische Dialoge und eindrückliche Beschreibungen zeichnen den unverwechselbaren Stil aus. Dabei ist der Text sehr dicht und atmosphärisch stark. Kein Wort ist zu viel. Immer wieder finden sich kluge Sätze und Gedanken.

 

Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Wanda, in chronologischer Reihenfolge, aber mit mehreren Rückblicken. Die Handlung umfasst einige Monate und spielt fast ausschließlich in Berlin. Viele kurze Kapitel treiben die Geschichte voran.

 

Auch in inhaltlicher Hinsicht hat die Geschichte einiges mehr zu bieten als nur Einblicke in die Filmbranche. Es geht vielmehr um die Probleme alleinerziehender Mütter, vererbte Armut und soziale Ungerechtigkeit. Dabei setzt der Roman auch feministische Impulse und macht nachdenklich.

 

Wanda ist eine Protagonistin mit Ecken und Kanten. Sie ist stur, macht Fehler und reagiert bisweilen impulsiv statt vernünftig. Trotzdem mochte ich diesen unbeschönigten Charakter gerne, denn wir erfahren nach und nach, wie ihr das Leben mehrfach übel mitgespielt hat. Ihr Denken und Handeln lassen sich nachvollziehen. Es erschreckt schlüssig. Nur wenige Nebenfiguren der Filmszene wirken etwas klischeehaft. Dies tut dem Lesevergnügen jedoch keinen Abbruch.

 

Auf den kaum mehr als 200 Seiten ist die Geschichte unterhaltsam und berührend. Die Handlung nimmt unerwartete Wendungen und ist überraschend innovativ.

 

Das Cover konzentriert sich auf den Plattenbau, eine treffende Wahl. Sowohl der prägnante Titel als auch das Motiv stechen heraus und passen hervorragend zum Inhalt.

 

Mein Fazit:

Mit „Achtzehnter Stock“ hat mich Sara Gmuer auf ganzer Linie überzeugt. Ihr Roman zählt für mich zu den Highlights im Frühjahr 2025 und hat das Potenzial, auch bei der zweiten und dritten Lektüre nichts von seiner Faszination einzubüßen. Absolute Empfehlung!

Keine perfekte Zweckgemeinschaft

Halbe Leben - Susanne Gregor

Klara Steiner (37) ist als Architektin erfolgreich. Sie lebt mit ihrem Mann Jakob, einem Fotografen, und der zehnjährigen Tochter Ada in einem schönen Haus im Kremstal (Österreich). Als ihre Mutter Irene, eine ehemalige Lehrerin, nach einem Schlaganfall unerwartet früh zum Pflegefall wird, muss sich Klara eingestehen, dass die Familie Hilfe benötigt. Über eine Agentur kommt Paulína (38) aus der Slowakei als Pflegekraft ins Haus. Zunächst scheint es, für alle Beteiligten die perfekte Lösung zu sein…

 

„Halbe Leben“ ist ein Roman von Susanne Gregor.

 

Untergliedert in drei Teile, wird im Präsens erzählt. Der Schluss der Geschichte ist an den Anfang gestellt. Davon abgesehen, wird in chronologischer Reihenfolge mit einigen Rückblenden erzählt.

 

Die Sprache ist atmosphärisch, eindringlich und einfühlsam, aber zugleich ungekünstelt. Der Schreibstil ist unaufgeregt und gleichzeitig einnehmend.

 

Drei Frauen stehen im Vordergrund der Geschichte. Vor allem die Protagonistinnen Klara und Paulína stechen hervor. Ihre Charaktere verfügen über viel psychologische Tiefe und wirken lebensnah. Ihre Gedanken und Gefühle werden sehr gut deutlich, man kommt ihnen sehr nahe. Keine der beiden ist frei von Fehlern. Auch Irene bleibt nicht eindimensional. Sie sowie die übrigen Figuren werden ebenfalls authentisch dargestellt.

 

Was bedeutet es, für die häusliche Pflege auf jemand anderen angewiesen zu sein? Was macht die anspruchsvolle, anstrengende Arbeit im Ausland mit den Pflegekräften und ihren Familien? Diese beiden Fragen leuchtet die Geschichte eindrucksvoll aus. Sicherlich: Die Geschehnisse im Roman sind zugespitzt. Dennoch legt die Geschichte einen Finger in die Wunde, macht die Missstände im Pflegesystem deutlich und richtet den Fokus auf ein wichtiges gesellschaftsrelevantes Thema. Sie rüttelt auf, stimmt nachdenklich.

 

Dass der Roman weitere Themen wie familiäre Beziehungen und die Vereinbarkeit von Job und Familie beinhaltet, macht ihn vielschichtig. Auf den nur rund 190 Seiten ist der Text dennoch nicht inhaltlich überladen.

 

Der Titel des Romans passt sehr gut zur Geschichte. Auch das künstlerisch anmutende Cover mit den unscharfen Frauenfiguren ist stimmig.

 

Mein Fazit:
Mit „Halbe Leben“ hat mich Susanne Gregor in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Eines der besten Bücher des Frühjahrs 2025. Sehr empfehlenswert.

Alles andere als eine Ballkönigin

Dancing Queen - Camila Fabbri

Schwer verletzt und orientierungslos: So findet sich Paulina Almada (35), Mitarbeiterin eines Versicherungsbüros, nach einem Verkehrsunfall in ihrem demolierten Auto am Rande von Buenos Aires wieder. Was ist passiert? Wer ist die 15-Jährige auf dem Rücksitz? Langsam kehren Paulinas Erinnerungen zurück.

 

„Dancing Queen“ ist der Debütroman von Camila Fabbri.

 

Unterteilt in 27 Kapitel, wird die Geschichte im Präsens und in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Paulina erzählt. Dabei gibt es zwei Ebenen, die sich abwechseln: einerseits die gegenwärtigen Ereignisse, andererseits die Rückblenden zu Geschehnissen aus ihrem Leben vor dem Unfall. Die Handlung spielt Anfang der 2020er-Jahre in Buenos Aires und in der Provinz, die an die Hauptstadt angrenzt.

 

Die Sprache des Romans ist schnörkellos, nüchtern und klar. Dennoch gibt es einige sehr treffende Sprachbilder. Zudem transportiert der Schreibstil viel Atmosphäre. Auffällig ist der sarkastische Unterton.

 

In inhaltlicher Hinsicht ist der nur etwa 170 Seiten dünne Roman erstaunlich vielschichtig und facettenreich. Es geht um romantische Beziehungen, Einsamkeit, Kinderwunsch, sexuelle Gewalt und einiges mehr. Dazwischen sind feministische Anklänge zu finden. Damit greift die Geschichte viele Themen auf, die Frauen in ihren Dreißigern bewegen, und bietet Impulse zum Nachdenken.

 

Als nicht ganz altersgerecht, eher unreif habe ich jedoch die Protagonistin empfunden. Paulina wirkt durchaus lebensnah gezeichnet. Ihre spröde, launische, oft distanzierte, Gleichgültigkeit ausstrahlende, unhöfliche und fast unverschämte Art sowie ihre innerliche Widersprüchlichkeit machen es mir allerdings schwer, einen Zugang zu ihr zu finden. Auch ihre beinahe exzessive Vorliebe für Pornografie ist ein wenig befremdlich. Mitunter hatte ich den Eindruck, dass sie psychologische Hilfe benötigt.

 

Besonders die Kapitel nach dem Unfall sorgen für Spannung. Andere Passagen, vor allem in der ersten Hälfte des Romans, konnten mich weniger abholen. Der Abschluss des Romans bleibt etwas diffus und lässt viel Raum für eigene Interpretationen.

 

Wie die Autorin in einem Interview erklärte, soll der Titel ironisch gemeint sein. Für mich funktioniert er leider nicht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die deutsche Version - anders als das spanischsprachige Original („La Reina del Baile“) - den eingangs zitierten ABBA-Song aufgreift. Das Covermotiv passt hingegen ganz gut.

 

Mein Fazit:
Mit „Dancing Queen“ hat mich Camila Fabbri nicht jeglicher Hinsicht überzeugt. Ein ungewöhnliches und eigenwilliges Debüt, das mich, offen gestanden, ein wenig ratlos zurücklässt.

Widderwillig und keinbockig

Widder Willi will aber - Romy Pohl

Willi, ein kleiner Widder, lebt mit seiner Familie inmitten seiner Schafherde. Doch nicht immer geht es harmonisch zu, denn besonders an den Tagen, an denen seine Hörner wachsen, möchte er alles alleine bestimmen. Damit macht er viel Ärger. Nun trifft Widder Willi auf den kleinen Steinbock Hörnchen, der ebenfalls ständig aneckt…

 

„Widder Willi will aber!“ ist ein Bilderbuch für Kinder ab drei Jahren.

 

Die Gestaltung des Bilderbuchs ist herzallerliebst. Mit viel Liebe und einem Auge fürs Detail, zugleich modern und passend für die Altersgruppe sind die Zeichnungen von Marta Balmaseda. Sie nehmen teilweise eine Doppelseite, teilweise eine ganze Seite und teilweise weniger Platz ein. Das sorgt für Abwechslung.

 

Protagonisten der Geschichte sind vor allem Widder Willi und der kleine Steinbock Hörnchen. Zwei niedliche Figuren.

 

In sprachlicher Hinsicht ist das Bilderbuch herausragend. Witzige Wortspiele („Keinbock“) erschließen sich bereits den Kleinen. Zudem werden einige Redewendungen aufgegriffen, sodass das Buch sprachförderlich ist. Die Texte von Romy Pohl sind nämlich so formuliert, dass sie perfekt an die Sprachkenntnisse der Altersgruppe anknüpfen.

 

Auf den rund 30 Seiten lässt sich die Geschichte auch ohne größere Erklärungen selbst für kleine Kinder prima nachvollziehen. Mehrere lustige Szenen sorgen für Vorlesespaß und gute Unterhaltung.

 

Das Thema Trotzphase beziehungsweise Autonomiephase finde ich interessant für die Altersgruppe. Dass der kleine Widder trotzig und aufmüpfig ist, kommt sehr gut zum Ausdruck. Leider hat mich die weitere Umsetzung des Themas nicht überzeugt. Es werden keinerlei Strategien angedeutet, wie sich mit der Trotzigkeit sinnvoll umgehen lässt, wie Kompromisse aussehen könnten und warum Grenzen und Regeln manchmal notwendig sind. Das witzige Herumalbern mit dem Steinbock ist bloße Ablenkung und lässt sich leider nicht auf den Alltag von kleinen Kindern übertragen. Das Versprechen, dass das Buch dabei hilft, die anstrengende Zeit zu meistern, wird nicht eingelöst. An diesem Punkt verschenkt die Geschichte bedauerlicherweise viel Potenzial. Der gerade erst erschienene Nachfolgeband lässt diesbezüglich allerdings hoffen.

 

Mein Fazit:

„Widder Willi will aber!“ ist ein witziges und unterhaltsames Bilderbuch. In pädagogischer Hinsicht besteht jedoch noch etwas Luft nach oben.

Die Flucht ins Hochgebirge

Über alle Berge - Valentine Goby

Frankreich im Jahr 1943: Der 12-jährige Vadim Pavlevitch wird von seinen Eltern in ein Bergdorf nahe der Schweizer Grenze geschickt. Der Junge, der von Asthma geplagt wird, soll dort unter dem Namen Vincent Dorselles Obhut finden.

 

„Über allen Bergen“ ist ein Roman von Valentine Goby.

 

Die Struktur des Romans ist durchdacht und erschließt sich schnell: Er besteht aus drei Teilen, die nach Farben benannt sind (weiß, grün, gelb). Erzählt wird im Präsens weitestgehend chronologisch und vorwiegend aus der Sicht von Vadim/Vincent.

 

Auf der sprachlichen Ebene hat mich der Text begeistert. Der unaufgeregte Schreibstil ist atmosphärisch, bildstark und mit poetischer Note. Ungewöhnliche, kreative Metaphern und Vergleiche sind ein Genuss. Insbesondere die Beschreibungen der Natur im Wandel der Jahreszeiten sind überaus gelungen. Nur wer viel Wert auf Dialoge legt, wird enttäuscht.

 

In der Geschichte geht es vor allem um die Themen Zusammenhalt, Vertrauen und Freundschaft. Die menschlichen Beziehungen werden dabei gut herausgearbeitet. Der Schwerpunkt liegt auf den Begegnungen zwischen Vadim/Vincent, dessen Gedankenwelt sehr gut deutlich wird, und den Einheimischen im Hochgebirge.

 

Trotz des sehr reizvollen Settings hat der Roman ansonsten in inhaltlicher Hinsicht meine Erwartungen nicht komplett erfüllt. Das wenig originelle Trope „Verfolgte Person jüdischer Abstammung versteckt sich vor den Nazis“ soll zwar für Spannung sorgen, nimmt dabei jedoch für meinen Geschmack zu viel Raum ein. Dies hat in Verbindung mit dem Umstand, dass die Geschichte auf den mehr als 300 Seiten nur wenig Handlung aufweisen kann, dazu geführt, dass ich mich beim Lesen immer wieder gelangweilt habe.

 

Die Gestaltung hingegen ist wiederum sehr geglückt. Das stimmungsvolle Cover passt hervorragend. Die Aufmachung der gebundenen Ausgabe ist hochwertig und mit Liebe zum Detail. Der deutsche Titel, der vom französischen Original („L’Île haute“) abweicht, gefällt mir schon alleine aufgrund des Wortwitzes sehr.

 

Mein Fazit:
Mit „Über allen Bergen“ von Valentine Goby ist ein Roman mit Stärken und Schwächen. Während mich die Sprache begeistert hat, hat mich der Inhalt leider etwas enttäuscht.

Von Flammen erfüllte Herzen

When Women were Dragons - Kelly Barnhill

Hundertausende gewöhnliche Frauen verwandeln sich im Jahr 1955 in den USA plötzlich in Drachen. Ihnen wachsen Flügel, Schuppen und Krallen. Für Alex Green, ein junges Mädchen, ist es auch Jahre später noch ein Mysterium, denn das Reden darüber ist ein Tabu…

 

„When Women Were Dragons - Unterdrückt. Entfesselt. Wiedergeboren“ ist ein feministischer Fantasyroman von Kelly Barnhill.

 

Die Struktur erschließt sich schnell: Der Roman umfasst 44 Kapitel. Dazwischen sind immer wieder Berichte, Briefe, Auszüge aus wissenschaftlichen Arbeiten und Protokolle eingefügt. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Alex. Die Handlung erstreckt sich über einige Jahre.

 

Der Schreibstil ist anschaulich, bildstark und atmosphärisch. Die Sprache ist authentisch, passt sich der jeweiligen Textform an und steckt voller Symbolik.

 

Protagonistin Alex ist ein interessanter und sympathischer Charakter, der durchaus lebensnah dargestellt wird. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich sehr gut nachvollziehen.

 

Wie könnte eine alternative Vergangenheit aussehen, in der sich Frauen gegen das Patriarchat auflehnen? Was passiert, wenn sich weiblicher Widerstand körperlich manifestiert? Die Drachenwandlung ist eine spannende und originelle Umsetzung dieses Gedankenexperiments. Wegen der antifeministischen Gegentendenzen sind die Themen unzureichende Gleichberechtigung und Sexismus so aktuell wie je. Die Geschichte regt zum Nachdenken an, gibt gesellschaftskritische Impulse und zeigt Missstände auf. Darin liegt die wohl größte Stärke des Romans.

 

Auf den fast 480 Seiten ist die Geschichte unterhaltsam, aber nicht durchweg fesselnd. Die Handlung ist stimmig. Allerdings bleiben zum Schluss noch einige Fragen offen.

 

Das düstere, geheimnisvolle Cover passt sowohl zum Inhalt als auch zum Genre. Der Titel der deutschen Ausgabe, der wörtlich vom Original übernommen wurde, gefällt mir ebenfalls gut.

 

Mein Fazit:
Mit „When Women Were Dragons - Unterdrückt. Entfesselt. Wiedergeboren“ ist Kelly Barnhill ein außergewöhnlicher Fantasyroman gelungen. Trotz mehrerer Längen eine empfehlenswerte Lektüre.